Gentrifizierung: Warum nicht?
Der Preis und die Bauqualität einer Wohnung sind zweifelsohne die ausschlaggebenden Faktoren, wenn es um die Wohnzufriedenheit geht. Aber nicht die einzigen. „Eine Wohnung gilt als qualitativ hochwertig, wenn man sie unterschiedlichen Lebenssituationen, z. B. einer körperlichen Beeinträchtigung, anpassen kann. Dazu kommen noch weitere Faktoren wie die Infrastruktur, der Grünraum oder Kinderspielplätze. In diesem Zusammenhang können wir sagen, dass wir in Österreich im internationalen Vergleich gut liegen“, erklärt Thomas Ritt. Während in anderen Großstädten wie New York oder London eine voranschreitende Gentrifizierung die soziale Struktur ganzer Stadtteile grundlegend ändert, bringe sie in Wien etwa positive Effekte: „Gerade hier haben wir erlebt, dass es erst durch die Gentrifizierung mancher Grätzl wie dem Karmelitermarkt oder dem Volkertmarkt zu einer richtigen sozialen Durchmischung dieser Gegenden gekommen ist“, betont Ritt.
Ein wesentlicher Faktor dieser sogenannten „sanften“ Gentrifizierung in der österreichischen Hauptstadt ist ein funktionierender MieterInnenschutz, bei dem sich MieterInnen ganz einfach gegen einen Auszug aus ihren Wohnungen wehren können. Die aktuelle Wohnbaupolitik in Österreich wirke sich laut Christof Schremmer auf die soziale Durchmischung in den Städten positiv aus, etwa durch einen Mix zwischen geförderten und frei finanzierten Wohnungen in Neubauprojekten. Jedoch hat dieses Modell auch seine Nachteile. „Der Mix aus Mietern und Eigentümern in einem Objekt ist rechtlich und verwaltungsorganisatorisch sehr problematisch“, warnt er. Ein ausreichend sozial durchmischtes Grätzl ist gleichzeitig ein gutes Signal gegen die Bildung von städtischen Ghettos.
Besser als ihr Ruf
Gab es solche Tendenzen in Wien in den 1980er- und 1990er-Jahren etwa entlang des Gürtels, wo Mietshäuser fast ausschließlich von ZuwanderInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder aus der Türkei bewohnt waren, bemerkt man seit der Öffnung der Gemeindewohnungen für nicht österreichische StaatsbürgerInnen sogar rückläufige Tendenzen. „Auch Favoriten, das oft in Medien als Ghetto gebrandmarkt wird, ist keines: Es ist ein bunt durchmischter Bezirk, sowohl sozial als auch ethnisch“, unterstreicht Thomas Ritt.
Dass die Wohnrealität einer Wohnsiedlung oft anders als ihr Ruf ist, zeigt etwa der Wohnpark Alt-Erlaa in Wien. Obwohl sie von Außenstehenden aufgrund ihrer Größe oft als Plattenbau mit niedriger Wohnqualität wahrgenommen wird, ist diese Siedlung im Süden Wiens eigentlich das Gegenteil: „Wie gut man in großen Sozialbauten mit mehr als 10.000 Einwohnern lebt, hängt in erster Linie vom Bau, von der Verwaltung und der sozialen Organisation ab. In Alt-Erlaa sind diese Fragen gut gelöst und führen dementsprechend zur höchsten Wohnzufriedenheit“, meint Christof Schremmer und betont, dass nicht die Größe einer Siedlung, sondern vor allem ein gutes Infrastruktur- und Arbeitsplatzumfeld, eine ausreichende Begrünung und ein Zugang zu Freizeiträumen essenziell für die Wohnqualität sind.
Nedad Memic
Freier Journalist
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/17.
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