Unsere Eltern wurden von der Impfaktion per Mitteilungsheft informiert, auch darüber, dass sie die Teilnahme ihres Kindes verweigern konnten. Soweit ich mich erinnere, tat das aber niemand, zu erleichtert waren alle, dass ein Schutzschild gegen die Kinderlähmung aufgebaut werden konnte.
Was uns damals nicht bewusst war: Wir wirkten an einem historischen Ereignis mit, denn das neutrale Österreich schaffte mit dem Einsatz der Schluckimpfung den Durchbruch im Kampf gegen das Polio-Virus für den ganzen „Westen“, der am Kalten Krieg mit dem kommunistischen „Osten“ fast gescheitert wäre. Die USA hatten sich nämlich für ein wenig wirksames Serum entschieden. Der Virologe Albert Sabin, der Entwickler der Schluckimpfung, bot sein Patent daraufhin der Sowjetunion an, und das Serum wurde in ihrem Einflussbereich mit Erfolg eingesetzt. Erst als eine Wiener Pharmafirma das sowjetische Patent übernahm und österreichische Wissenschafter*innen es verbessert hatten, konnte der Schutzschild gegen Polio auch in Westeuropa, den USA und Kanada aufgerichtet werden.
In der Bundesrepublik Deutschland startete die Polio-Schluckimpfung 1961. Dieses Plakat warnte 1965 vor einem neuerlichen Vormarsch des Virus.
Ich verstand die Bedeutung der Polio-Impfung vielleicht besser als die meisten meiner Schulkolleginnen, denn in der Nachbarschaft des Hauses meiner Großeltern und am Anfang im Haus selbst wurden „Polio-Kinder“ behandelt. Die „Wiederherstellungsanstalt für körperbehinderte Kinder“ betreute Kinderlähmungsopfer aus vielen Ländern. Mein Cousin und ich hätten gerne mit ihnen gespielt, aber das war wegen der Ansteckungsgefahr streng verboten. Nach den Massenimpfaktionen kamen keine „Polio-Kinder“ mehr, nur eine Kiste englische Tarzan- und Prinz-Eisenherz-Hefte auf unserem Dachboden erinnerte an sie. Seit 1980 gilt Österreich als „poliofrei“, seit 2002 ganz Europa.