Dass die ungleiche Verteilung auch wieder ein Thema innerhalb der reichen Länder und für ihre Gewerkschaften werden könnte, daran dachte damals kaum jemand. Zwar war der Zugang zum volkswirtschaftlichen Reichtum nach wie vor alles andere als gerecht, aber durch eine fortschrittliche Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik konnte ein wenig davon von „oben“ nach „unten“ verteilt werden – etwa durch die Einführung der 40-Stunden-Woche. Das ist nur ein Beispiel, das belegt, was die Gewerkschaftsbewegung schon immer wusste und der Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty in seinem Megaseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ durch aktuelle Forschungsergebnisse untermauert:
„Die Geschichte der Vermögensverteilung ist immer auch eine durch und durch politische Geschichte und lässt sich nicht auf rein ökonomische Mechanismen reduzieren. … Die Geschichte der Ungleichheit hängt von den Vorstellungen der ökonomischen, politischen und sozialen Akteure über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sowie von den Kräfteverhältnissen zwischen ihnen … ab.“
Die Diskussion um die realistische Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den „Akteuren“ war seit Beginn der Arbeiter*innenbewegung vor mehr als 150 Jahren entscheidend für den Weg der politischen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Denn auch einige der „Arbeiterführer*innen“ der ersten Stunde hielten es für unmöglich, im Kapitalismus ein gutes Leben für alle durchzusetzen, etwa der Deutsche Ferdinand Lassalle oder der Engländer John Weston. Lassalle war wie Weston überzeugt, dass es das „eherne Lohngesetz“ des Kapitalismus unmöglich mache, für die Arbeiter*innen mehr als gerade einmal die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu erreichen. Gewerkschaftstätigkeit könne unter diesen Bedingungen nichts ausrichten, der einzig richtige Weg sei, dass die Arbeiter*innen selbst Unternehmen betreiben.
Der Wirtschafts- und Sozialwissenschafter Karl Marx widersprach dieser These 1865 heftig. Er hatte zusammen mit anderen in London die „Internationale Arbeiterassoziation“ gegründet, weil er überzeugt war, dass Wissenschafter*innen verpflichtet seien, für ihre Erkenntnisse auch im gesellschaftlichen und politischen Leben einzutreten. Bei einer Sitzung des Generalrats dieser Organisation erklärte er, warum auf Gewerkschaften nicht verzichtet werden könne: erstens, weil auch im Kapitalismus für die arbeitenden Menschen mehr als das Lebensnotwendige herauszuholen sei, und zweitens, weil sie mit ihrem täglichen Kampf um Verbesserungen ein Gegengewicht zu den herrschenden Interessen sein können:
„Bürger Weston illustrierte seine Theorie, indem er euch sagte, dass, wenn eine Schüssel eine bestimmte Menge Suppe enthält, die von einer bestimmten Anzahl von Personen gegessen werden soll, eine Steigerung in der Breite der Löffel keine Steigerung der Menge der Suppe hervorbringen würde. Er muss mir gestatten, diese Illustration ziemlich ausgelöffelt zu finden … Bürger Weston für sein Teil hat vergessen, dass die Schüssel, aus der die Arbeiter essen, mit dem ganzen Produkt der nationalen Arbeit gefüllt ist und dass es weder die Kleinheit der Schüssel noch die Knappheit ihres Inhalts ist, was sie daran hindert, mehr herauszuholen, sondern nur die Kleinheit ihrer Löffel … Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals.“
Die österreichischen Gewerkschaften haben diese Funktion als Gegenmacht immer ernst genommen, und gerade deswegen weht ihnen wieder einmal ein scharfer Wind entgegen.