Historie: Das erste Gesetz

Foto (C) Photographische Kunstanstalt Berthold. Hinweis: Angabe stammt von der Homepage des Parlaments.
Viktor Stein (1876–1940) sprach perfekt Deutsch und Tschechisch und veröffentlichte zum Beispiel auch eine kleine Karl-Marx-­Biografie auf Tschechisch. Er war bis zum Verbot der Sozialdemokratie im Jahr 1934 Nationalratsabgeordneter und beteiligte sich dann an der verbotenen Oppositionsarbeit. 1939 wurde er in das KZ Sachsenhausen deportiert, das er nicht überlebte.
A&W-Redakteur Viktor Stein stellte 1922 die Vorzüge des österreichischen Betriebsrätegesetzes im internationalen Vergleich fest.
Viktor Stein war nicht nur Redakteur der Union der Metallarbeiter und ab 1923 von der Zeitschrift „Arbeit& Wirtschaft“, sondern auch ein gefragter Referent der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Nachdem in Deutschland und Österreich bereits ein Gesetz zur Errichtung von Betriebsräten beziehungsweise Betriebsausschüssen erlassen worden war, war es im Jahr 1922 auch in der Tschechoslowakei so weit. Der dortige deutsche Gewerkschaftsbund lud Stein daraufhin ein, das Gesetz mit den KollegInnen im Vergleich zu den beiden anderen Gesetzen unter die Lupe zu nehmen. Er kam dabei zu folgendem Ergebnis:

Das älteste ist das österreichische Gesetz vom 15. Mai 1919. … Vor allem ist es ein aus dem Ganzen der Sozialisierungs-Gesetzmaterie herausgehobenes Gesetz. Und weiter stellt es sich ausschließlich in den Dienst der Arbeiter und ihrer gewerkschaftlichen und wirtschaftsorganisatorischen Bestrebungen. … Das österreichische Gesetz lässt die Betriebsräte sich nur um das Wohl der arbeitenden Menschen für den Augenblick und für die weiteste Zukunft kümmern.

Diese klare Aufgabenstellung sei, so Stein, nur durchsetzbar gewesen, weil sich die österreichische ArbeiterInnenbewegung in entscheidenden Fragen einig gewesen war. In Deutschland habe dagegen nicht nur der spätere Zeitpunkt der Beschlussfassung, als die Revolutionsangst bereits verflogen war, sondern vor allem auch die Uneinigkeit der ArbeiterInnenbewegung zu einem schlechteren Ergebnis geführt:

Das deutsche Gesetz trägt das Datum 4. Februar 1920 … nach dem deutschen Gesetz sind in den Betrieben zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellten) dem Arbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke Betriebsräte zu errichten. … Kurz, das deutsche Gesetz denkt ganz unverhohlen an den kapitalistischen Wiederaufbau … und schützt daher die Unternehmungen – vor den Arbeitern. Aber die Demokratisierung der Betriebe strebt es energisch und ehrlich an.

An dem tschechoslowakischen Gesetz, das Anfang 1922 in Kraft trat, kritisiert Stein zunächst seine juristische „Schluderhaftigkeit“. Es sei zu einem Zeitpunkt verabschiedet worden, als der Kapitalismus nach den revolutionären Unruhen wieder fest im Sattel saß, vor allem aber hätten die sozialdemokratischen Abgeordneten Gewerkschaften hinter sich, die sich nur mit Mühe einem selbstmörderischen Bruderkampf erwehren können – ein Hinweis auf die großen Spannungen zwischen tschechischen und deutschen ArbeiterInnenorganisationen. Unter solchen Umständen, so Stein, kann es nicht überraschen, dass dieses Gesetz sozusagen in der Luft schwebt…. Es tut merkwürdig weltfremd (so schützt es vor, Gewerkschaften der Unternehmer zu kennen!), es trachtet von der Machtvollkommenheit des Unternehmers möglichst viel zu retten, … es erweitert nur das Recht der (gewerkschaftlichen) Betriebsvertrauensmänner.

Bei aller Kritik sieht Viktor Stein dieses Gesetz aber als wichtigen Schritt zur Demokratisierung der Wirtschaft an, vorausgesetzt eine starke, einige Gewerkschaftsbewegung stehe hinter der betrieblichen Interessenvertretung.

Von
Brigitte Pellar
Historikerin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/18.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
brigitte.pellar@aon.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.