Hunger, Schwindsucht, Pandemie – die Spanische Grippe in Österreich

Illustration Spanische Grippe
Collage / Fotos (C) Wiener Illustrierte Zeitung 17. 11. 1918, S. 1, Foto: R. Hauffe - ANNO/Österreichische Nationalbibliothek
Vor 100 Jahren hieß die Pandemie Spanische Grippe. Sie führte aber nicht zu Wirtschaftsproblemen, sondern platzte mitten in eine Gesundheits- und Hungerkrise, die bereits da war. Es traf die Armen.

Die (falsche) Annahme, dass sie sich Ende 1917 von Spanien ausbreitete, gab der Pandemie den Namen. Sie forderte bis zu ihrem Abklingen 1919 mit mindestens 25 Millionen Toten mehr Opfer als der vierjährige brutale Erste Weltkrieg. Im Krieg wurden die Soldaten quer über die Kontinente geschickt, und das Zusammentreffen großer Menschenmengen während der politischen Umbrüche in seinem Gefolge bot wenig Chance, die Verbreitung des Erregers rasch zu stoppen.

Bildnachweis: Everett Collection/ picturedesk.com, „Wiener Zeitung“, 2. Jänner 1919 – ANNO/Österreichische Nationalbibliothek.

Die Spanische Grippe in Österreich

In Österreich erreichte die Spanische Grippe ihren Höhepunkt im Herbst 1918. Es waren die Monate, in denen die Habsburgermonarchie endgültig zerfiel und ihre militärische Niederlage akzeptieren musste. Während das neutrale Spanien Information zugelassen hatte, unterdrückte die Kriegsdiktatur bis Oktober fast alle Berichte über die Pandemie und ihr Ausmaß. Erst ab Mitte Oktober konnten die Zeitungen darüber und über die Gegenmaßnahmen etwas genauer informieren, wie das „Grazer Tagblatt“ am 18. Oktober über die Entwicklung in Wien.

Die Spanische Grippe. K. Wien, 18. Oktober. Da die Grippe ununterbrochen zunimmt, hat sich der Landessanitätsrat heute mit einem Antrag auf Schließung sämtlicher Vergnügungslokalitäten befasst. Voraussichtlich wird noch im Laufe des heutigen Abends oder morgen eine diesbezügliche Entscheidung der Statthalterei erfließen, womit die Kinos, Theater, Versammlungslokale und in letzter Linie auch die Kirchen vorläufig gesperrt werden sollen.

Bildnachweis: „Grazer Tagblatt“, 18. Oktober 1918 – ANNO/Österreichische Nationalbibliothek.

Mit der Ausrufung der demokratischen Republik am 12. November war die Zensur aufgehoben und die Pressefreiheit garantiert. Es konnte jetzt uneingeschränkt berichtet werden, aber trotz der noch immer großen Todesrate und der auch noch mindestens 500 Toten in der ersten Jahreshälfte 1919 war die Pandemie keine Schlagzeilen wert. Die Republiksgründung und der schwierige Rücktransport der Soldaten von den Fronten beherrschten die Medien.

  • An die 100.000 Menschen kamen am 12. November 1918 zum Parlament, um die Ausrufung der Republik mitzuerleben. An die Gefahr einer Ansteckung mit der Spanischen Grippe dachte niemand. (Bildnachweis: Wiener Illustrierte Zeitung 17. 11. 1918, S. 1, Foto: R. Hauffe - ANNO/Österreichische Nationalbibliothek.)

Die gerade erst durch die neue Demokratie gesicherte Versammlungsfreiheit wurde auch deshalb nicht wieder eingeschränkt, weil 1918 niemand wirklich wusste, wie sich das Virus verbreitete und wie man die Krankheit überhaupt erkennen konnte. Demgemäß wurde die Spanische Grippe erst gar nicht zur anzeigenpflichtigen Krankheit erklärt, obwohl das nach dem von der Republik übernommenen Epidemiegesetz von 1913 möglich gewesen wäre. Einer der Autoren des Gesetzes, der Sektionschef Franz von Haberler, war der Ansicht, dass „eine strenge Isolierung der Kranken aufgrund der großen und explodierenden Zahl der Erkrankten undurchführbar erscheint“. Nur die schweren Fälle wurden wenigstens in Wien von Amtsärzten erfasst und kamen in isolierte Notspitäler, neben Lokalen und Kirchen blieben auch wie 2020 die Schulen geschlossen.

Die gerade erst durch die neue Demokratie gesicherte Versammlungsfreiheit wurde auch deshalb nicht wieder eingeschränkt, weil 1918 niemand wirklich wusste, wie sich das Virus verbreitete und wie man die Krankheit überhaupt erkennen konnte.

Insgesamt forderte die Spanische Grippe in Österreich zwischen 20.000 und 40.000 Menschenleben, fast die Hälfte davon in Wien, weltweit zwischen 20 Millionen und 100 Millionen.

Schwindsucht und Hunger

Die Pandemie trifft die Menschen in Österreich 2020 trotz aller Probleme unter völlig anderen Bedingungen als 1918. Als die Spanische Grippe hereinbrach, litt die Bevölkerung bereits Jahrzehnte unter einer „Volksseuche“, die man auf der ganzen Welt „Wiener Krankheit“ nannte: die Lungentuberkulose Tbc, im Volksmund „die Schwindsucht“. Schon vor dem Krieg waren über 20 Prozent aller Todesfälle in Wien auf diese bakterielle Infektion zurückzuführen, bis 1918 stieg die durch Tbc verursachte Todesrate um 78 Prozent. Es war vor allem eine Krankheit der ArbeiterInnen und Armen. Die fortschrittliche Sozial- und Gesundheitspolitik des „Roten Wien“ und der Bau besserer Wohnungen drängten sie stark zurück.

Tbc war vor allem eine Krankheit der ArbeiterInnen und Armen. Die fortschrittliche Sozial- und Gesundheitspolitik des „Roten Wien“ und der Bau besserer Wohnungen drängten sie stark zurück.

Nach dem Zweiten Weltkrieg starben in Österreich wieder Tausende an Tuberkulose, Impfprogramme und medizinischer Fortschritt brachten sie dann fast ganz zum Verschwinden. Weltweit ist die Tbc aber noch immer eine der gefährlichsten Infektionskrankheiten, jährlich sterben an ihr Millionen Menschen.

  • Unterstützungsaufruf für Tbc-kranke Soldaten 1916.540.000 Männer waren betroffen. Viele von ihnen starben an den Krankheiten, nicht in Kämpfen. (Bildnachweis: Bildarchiv Austria/ Österreichische Nationalbibliothek.)

Die Unterernährung der demobilisierten Soldaten und der Zivilbevölkerung erhöhte die Ansteckungsgefahr und die Todesraten. In keinem anderen kriegführenden Staat war die Lebensmittelversorgung so schlecht organisiert wie in Österreich-Ungarn. 1918 kam dazu, dass die Agrargebiete, die jetzt in den Nachfolgestaaten der Monarchie lagen, nicht mehr über die neuen Grenzen lieferten. Nach Angabe des Wiener Gesundheitsamts standen Mitte 1920 fast 20.000 Kinder am Rand des Hungertods.

Nach Angabe des Wiener Gesundheitsamts standen Mitte 1920 fast 20.000 Kinder am Rand des Hungertods.

  • Blätter, Früchte und Rinden von Laubbäumen wie Buchen und Eichen mussten oft Nahrungs- und Genussmittel ersetzen. (Bildnachweis: Kikeriki 10. 11. 1918, S. 4 - ANNO/Österreichische Nationalbibliothek)

Ein Beitrag von

Brigitte Pellar
Historikerin

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