Es liege deshalb im Eigeninteresse des „Publikums“, die Forderung nach dem Einhalten des vereinbarten Ruhetags zu unterstützen.
Da hatte sich in den Anfangsjahren der Republik gegenüber den Zuständen zu Kaisers Zeiten noch nicht viel ändern können, die Rechtsverbindlichkeit von Kollektivverträgen galt ja erst ab 1920. Das „Flohkisterl“ in den Gaststuben, eine aufklappbare Sitzbank als Schlafplatz für Kellner und Lehrlinge, gehörte zwar dank dem Eingreifen der Gewerkschaft der Vergangenheit an, die Gesundheitsstatistik des Jahres 1904 hatte dagegen erschreckende Aktualität: 1904 registrierten allein die drei Wiener gastgewerblichen Krankenkassen 159 Sterbefälle, bei 83 davon war die Todesursache Tuberkulose. Die fehlende Zeit für Körperpflege und Erholung sei, so die Gewerkschaft, die Hauptursache für diesen hohen Anteil an Schwindsüchtigen unter den Gastrobeschäftigten, die Lokale würden dadurch zu Hotspots der Ansteckung und auch die Gäste in hohem Maß gefährdet. Es liege deshalb im Eigeninteresse des „Publikums“, die Forderung nach dem Einhalten des vereinbarten Ruhetags zu unterstützen. Die große Zahl an kleinen, weit verstreuten Betrieben in der Branche erleichterte aber weiter die Umgehung der Arbeitszeit- und Arbeitnehmer:innenschutz-Vereinbarungen.
Die gesundheitliche Belastung der Gastrobeschäftigten blieb unter diesen Umständen überdurchschnittlich hoch, auch als die Lungentuberkulose vor allem durch die Gesundheits- und Wohnbaupolitik des „Roten Wien“ als Volkskrankheit zurückgedrängt und in der Zweiten Republik mithilfe einer Impfkampagne praktisch ausgerottet worden war. Das belegten 1993 die Ergebnisse einer Studie über die Arbeitsbedingungen in der niederösterreichischen Gastronomie: Fußschmerzen, Rheuma, Herz- und Lungenbeschwerden, Krampfadern, Bandscheibenschäden und Erkrankungen des zentralen Nervensystems waren die Hauptbeschwerden. Die Studie hatte den Zweck, den damals wie 2021 weit verbreiteten und von den Medien unterstrichenen Klagen der Arbeitgeber:innen über die „Flucht aus der Branche“ die Realität entgegenzustellen und die Berechtigung der Gewerkschaftsforderungen zu unterstreichen. Kein Wunder, stellte die HGPD (Gewerkschaft Hotel, Gastgewerbe, Persönlicher Dienst, seit 2006 Teil der Gewerkschaft vida) fest, dass eine Arbeit mit solchen gesundheitlichen Folgen alles andere als attraktiv sei. Qualifiziertes Personal werde nur dann ausreichend zu finden sein, wenn die Ausbildung verbessert werde, die Bedürfnisse der Arbeitnehmer:innen am Arbeitsplatz Berücksichtigung finden, eine bessere arbeitsmedizinische Betreuung gegeben sei und ein Kündigungsschutz für ältere Kolleg:innen eingeführt werde.
Das Geschichtsinstitut in der AK Wien betreut das größte AK- und Gewerkschaftsarchiv Österreichs und baut seine Sammlungen laufend aus. Sollten Sie, liebe A&W-Leser:innen, interessante Dokumente, Fotos, CDs, DVDs besitzen oder kennen, wäre es schön, wenn Sie mit den Kolleg:innen unter der E-Mail-Adresse office@ihsf.at Kontakt aufnehmen würden.
Nähere Informationen zum Institut für historische Sozialforschung/IHSF und seinen Projekten unter https://ihsf.at.