Historie: Am Unglück selbst schuld

Foto (C) Wiener Bilder, 24. 11. 1918
Ein Heimkehrertransport in Marchegg im November 1919. An allen Grenzen sah es ähnlich aus. August Forstner, Abgeordneter und Vorsitzender der Transportarbeiter­gewerkschaft, schilderte das Chaos jener Tage: Die wenigen Züge, die […] abgehen können, sind auf den Treppen, Waggon­dächern, Lokomotiven und Tendern derart besetzt, dass keine Stecknadel Platz finden könnte.
Selbst "Helden des Vaterlands" traf schon 1918 der Vorwurf "Sozialschmarotzer" zu sein, wenn sie von Arbeitslosengeld leben mussten.
Wie das Betriebsrätegesetz ist die österreichische Arbeitslosenversicherung eine Errungenschaft der demokratischen Republik von 1918 und Vorbild für andere Länder. Nach einigen Wochen schwieriger Verhandlungen wurde am 12. November 1918 die Republik ausgerufen. Eine ihrer ersten Maßnahmen war die Einführung einer staatlichen Arbeitslosenunterstützung für die ArbeiterInnen der Industrie, weil es akuten Handlungsbedarf gab. Der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Antal Mühlberger schilderte die Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als Ausschussberichterstatter vor dem Beschluss des Gesetzes „über die Unterstützung der Arbeitslosen“ im März 1920:

Sie kennen den Stand der Arbeitslosigkeit und Sie wissen, dass die Arbeitslosigkeit nicht nur auf den Zusammenbruch der Front, sondern auch auf die Zerreißung unseres Staates zurückzuführen ist, wodurch uns die nötigen Rohstoffe, Kohle und Halbfabrikate fehlen, so dass die Verhältnisse natürlich sehr traurig sind.

Unter diesen Bedingungen konnte 1919 kein ausreichendes Beschäftigungsangebot geschaffen werden. Die Arbeitslosenrate erreichte in diesem Jahr 18,4 Prozent, ein Wert, der erst in der Weltwirtschaftskrise 1932 überschritten wurde. Da die Notunterstützung nur für den Bereich der Industrie galt, bot sie nur etwas über 40 Prozent der Arbeitslosen ein Mindestmaß an Hilfe. Obwohl in erster Linie heimgekehrte Soldaten davon profitierten, kam es auch schon damals zu populistischen Angriffen auf die „Sozialschmarotzer“. In seiner Bilanzrede vom März 1922 erinnerte der frühere Sozialstaatssekretär Ferdinand Hanusch, zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des sozialpolitischen Ausschusses, an diese Widerstände:

Es ist damals über die Arbeitslosen geradezu geschimpft worden wie heute. Man stand immer auf dem Standpunkte, dass der Arbeitslose an seinem Unglück selbst schuld sei und dass die öffentliche Gewalt infolgedessen nicht Ursache habe, einzugreifen.

Karl Mühlberger, ein ehemaliger Berufsoffizier, parierte die Angriffe, indem er die Kosten für die Arbeitslosenhilfe den Kosten für die Kriegsführung gegenüberstellte:

… so möchte ich feststellen, dass die Arbeitslosenunterstützung in diesen 16 Monaten insgesamt 447 Millionen Kronen gekostet hat, also ungefähr soviel, als die Kriegsführung in einer Woche verschlungen hat.

Im Jahr 1920 zeichnete sich ein rasanter Rückgang der Arbeitslosigkeit ab, gleichzeitig war die junge Republik so gut wie pleite und konnte die Unterstützungsleistung nicht mehr allein finanzieren. Die Situation schien günstig, um das soziale Netz für den Fall der Arbeitslosigkeit auf eine neue Grundlage zu stellen und gleichzeitig weiter zu spannen. Mit dem Gesetz vom März 1920 wurde auch für die Unterstützung von Arbeitslosen das Versicherungsprinzip eingeführt, mit Finanzierung zu je einem Drittel durch Beiträge der ArbeitnehmerInnen, der Arbeitgeber und aus dem Staatsbudget. Im Zuge der deflationären Budgetsanierung mit extremer Sparpolitik ging der Staatsanteil allerdings auf null zurück, bis die Weltwirtschaftskrise die „Selbstregulierungskräfte des Marktes“ infrage stellte.

Von
Brigitte Pellar

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/18.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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