Von Rekordgewinnen und Armut: Helene Schuberth im Interview

Interview mit Helene Schuberth, Chefökonomin im Österreichischen Gewerkschaftsbund. Symbolfoto Lösungen Inflation.
ÖGB-Chefökonomin Helene Schuberth im Interview. | © Markus Zahradnik
Mieten steigen um 25 Prozent, Familien haben Probleme Heizung und Lebensmittel zu zahlen, gleichzeitig machen Konzerne Rekordgewinne. Helene Schuberth, Chefökonomin beim ÖGB, analysiert im Interview die Situation und bietet Lösungen an.
Selten zuvor waren Ökonom:innen derart gefragt in Österreich, wie in der aktuellen Situation. Denn die Probleme sind vielschichtig und einfache Lösungen gibt es nicht. Das beginnt mit der problematischen Inflation, die sich durch alle Sektoren frisst. Von den Lebensmitteln bis zur Miete. Sie hat eine Spirale der Teuerung im ganzen Land ausgelöst. Weiter geht es mit einem Bankensektor, der auf Kosten der eigenen Kundschaft und der Steuerzahler gerade Rekordgewinne einfährt. Für viele Menschen ist die anstehende Herbstlohnrunde deswegen ein Hoffnungsschimmer. Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft spricht Helene Schuberth, die Chefökonomin des Österreichischen Gewerkschaftsbundes über die Herausforderungen und Lösungen für die aktuelle Situation.

Inflation, Mieten, Rekordgewinne: Helene Schuberth im Interview

Arbeit&Wirtschaft: Fr. Schuberth, jeden Monat gibt es neue Daten zur Inflation. Jeden Monat sind wir aufs Neue überrascht. Wie viel Einfluss hat eine Regierung auf die Preissteigerungen?

Helene Schuberth: Einen sehr großen, wie wir im europäischen Vergleich sehen. Österreich ist eines der Länder, das am wenigsten auf preissenkende Maßnahmen gesetzt hat. Und Monat für Monat rutschen wir im Vergleich der Inflationsraten ab – Stand August haben nur noch zwei Eurozonen-Länder, nämlich Kroatien und die Slowakei, eine höhere Inflationsrate als wir. Gleichzeitig beobachten wir, dass in Ländern wie Spanien, das früh in die Preise eingegriffen hat, die Inflationsrate schon wieder auf rund 2 Prozent gesunken ist. Die Bundesregierung hätte viele Möglichkeiten gehabt, die hohe Teuerung zu verhindern. Preiseingriffe sind sinnvoll und möglich bei Energiepreisen, Mieten oder bei Lebensmitteln, wie zum Beispiel ein vorübergehendes Aussetzen der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel.

Welche drei Maßnahmen würden den Menschen derzeit am schnellsten helfen?

Erstens, ein Preisdeckel für alle Energieformen, nicht nur für Strom. Auch bei Gas und Fernwärme gibt es enorme Preissteigerungen, die viele Haushalte vor große Probleme stellen. Zweitens, ein rückwirkender Mietenstopp für alle Mietsegmente. Vielen Mieter:innen sind in den letzten Monaten Erhöhungen von bis zu 25 Prozent in die Wohnung geflattert. Es braucht einen echten Mietpreisdeckel, der auch für die freien Mieten gilt, sowie ein Ende von Befristungen – denn auch bei Verlängerungen erhöht sich meist die Miete stark. Und drittens muss die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel befristet gestrichen werden. Von dieser Maßnahme profitieren ärmere Haushalten mehr, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für diese Güter ausgeben.

Österreich ist eines der Länder, das am wenigsten auf preissenkende
Maßnahmen gesetzt hat.

Helene Schuberth, ÖGB-Chefökonomin

Welche Maßnahmen müssten mit Blick auf eine langfristige Lösung des Problems unternommen werden?

Wir benötigen eine grundsätzliche Änderung beim Mietmarkt: Mieten sollen nur mit einem gewissen, niedrigen Prozentsatz pro Jahr erhöht werden dürfen und in Phasen hoher Teuerung sollen Mieterhöhungen ausgesetzt werden, um die Inflation nicht weiter anzukurbeln. Befristungen sollen abgeschafft werden und wir benötigen eine Leerstandsabgabe sowie einen Ausbau von Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen. Auch der Energiemarkt muss dringend neu geregelt werden. Neben einem Energiepreisdeckel für den Grundbedarf der Haushalte, muss der EU-Energiemarkt „rereguliert“ werden, damit der Strompreis nie wieder so in die Höhe schießen kann wie im Jahr 2022. Zuletzt muss eine Anti-Teuerungskommission eingesetzt werden, die anhand einer Preisdatenbank kontrollieren (und sanktionieren!) kann, wenn Unternehmen ihre Preise weitaus stärker als ihre Kosten erhöhen und somit die Teuerung antreiben.

Eine Maßnahme der österreichischen Regierung ist der Mietendeckel. Wird er gegen die Inflation helfen? Was kommt auf die Mieter:innen zu?

Der Mietendeckel in der von der Bundesregierung präsentierten Form ist eine Farce. Die größten Mieterhöhungen – von bis zu 25 Prozent in nur wenigen Monaten – liegen bereits in der Vergangenheit. In gewissen gesetzlich geregelten Altbaubereichen wäre nächstes Jahr die Miete sowieso nicht erhöht worden. Und für den gesamten Bereich der freien Mieten am privaten Mietmarkt gilt er gar nicht. Nur bei gewissen Genossenschaftswohnungen wird nächstes Jahr ein Teil der Mieterhöhung gedeckelt.

So hart die Inflation viele Menschen trifft, so lukrativ scheint sie für Unternehmen zu sein. In der aktuellen Situation wurde der Begriff der Gierflation geprägt. Was genau ist die Gierflation?

Der Begriff kommt ursprünglich aus den USA („Greedflation“) und beschreibt das Phänomen, dass Unternehmen im Windschatten der steigenden Inflation die Preise erhöhen, um ihre Gewinne konstant zu halten oder sogar auszuweiten, und so die Inflation antreiben. Mittlerweile sinken die Einkaufspreise in vielen Bereichen – die Großhandelspreise für Energie sinken seit einem Jahr – die Preise für die Endkund:innen sind nur geringfügig gesunken. Österreich ist hier ein Vorzeigeland im negativen Sinne. Zuletzt war der Gewinnbeitrag der Unternehmen zur heimischen Inflation nur in 6 von 20 EU-Ländern höher als bei uns.

Wie können Gewinne die Inflation antreiben und wie groß ist der Effekt in Österreich?

Vereinfacht gesagt wird analysiert, wie hoch die sogenannte „hausgemachte“ Teuerung ist, die den importierten Anteil, wie beispielsweise steigende Gaspreise, ausklammert. Steigen die Gewinne stärker als die Löhne, treiben sie die Inflation auch stärker. Genau das war in Österreich der Fall. Laut der österreichischen Nationalbank war die Inflation 2022 zu fast zwei Drittel gewinngetrieben. Genau das passiert, wenn man sich als Bundesregierung zurücklehnt und ohne einzugreifen zusieht, wie die Unternehmen ihre Preise erhöhen.

Österreichische Nationalbank (OeNB) macht Verlust.
Österreichs Nationalbank | © Adobestock/Frank
Die Gretchenfrage: Geht es der Wirtschaft in Österreich gut?

Auch in Österreich zeigen sich natürlich bereits Effekte der Zinspolitik der Europäischen Zentralbank. Diese hat die Zinsen sehr rasch auf das höchste Niveau seit Beginn Währungsunion vor fast 25 Jahren erhöht. Das Ziel ist, das Wirtschaftswachstum zu schwächen und in weiterer Folge auch die Gewerkschaften an hohen kaufkraftsichernden Lohnforderungen zu hindern, um möglichst rasch wieder zu Inflationsraten rund um zwei Prozent zurückzukehren. Die Auswirkungen sind natürlich auch schon in Österreich spürbar. Insgesamt hatten die Unternehmen sehr gute Jahre hinter sich, auch weil die Bundesregierung großzügig mit Unternehmensförderungen um sich geworfen hat.

Also können sich die Unternehmen in der anstehenden Herbstlohnrunde Lohnerhöhungen, die oberhalb der Inflationsrate liegen, leisten?

Bestimmt ist das der Fall. Viele Unternehmen haben die Teuerung erst in diese Höhen getrieben, indem sie Preise über die Kostenanstiege hinaus erhöht haben, und dabei ein gutes Körberlgeld eingefahren. Die Arbeitnehmer:innen haben hingegen letztes Jahr Lohnerhöhungen unter der aktuellen Inflationsrate geschultert, da sich die Gewerkschaften verantwortungsvoll an die jahrelange Praxis der rollierenden Inflationsrate als Basis für die Lohnverhandlungen gehalten haben. Diese liegt in Zeiten stark steigender Inflationsraten etwas darunter, was notgedrungen zu Reallohnverlusten führt, aber die Inflation dämpft. Jetzt, da die Inflationsraten wieder langsam sinken, liegt die rollierende eine Zeit lang über der aktuellen monatlichen Inflationsrate, wodurch die Reallohnverluste wieder ausgeglichen werden. Dies den Arbeitnehmer:innen streitig machen zu wollen, ist nicht zu akzeptieren.

Das Argument der Wirtschaft ist häufig, dass steigende Löhne die Inflation noch weiter anheizen. Stimmt das?

Nein, das ist nicht der Fall. Die Lohnkosten machen in manchen Branchen nur ein Fünftel der gesamten Kosten aus. Selbst die Oesterreichische Nationalbank schätzt, dass eine Lohnerhöhung von 10 Prozent die Inflationsrate nach einem Jahr nur um 1,2 Prozentpunkte erhöht. Es ist auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht dringend notwendig, dass der Kaufkraftverlust der Arbeitnehmer:innen möglichst schnell ausgeglichen wird. Ausreichende Lohnerhöhungen stellen sicher, dass die inländische Nachfrage aufrechterhalten wird und es zu keinem nachhaltigen Wirtschaftsabschwung kommt.

Ein Sektor, dem es aktuell besonders gut geht, ist der Bankensektor. Banken geben den steigenden Leitzins an die eigenen Kreditnehmer:innen weiter, aber nicht an die Sparer:innen. Darunter leiden besonders Menschen, die einen Immobilienkredit mit variablem Zins haben. Warum ist diese Kreditform in Österreich so verbreitet und in anderen europäischen Ländern nicht?

Der Bankensektor macht gerade Rekordgewinne, die vor allem durch die erwähnte Zinsspanne getrieben sind. Über zehn Milliarden Euro an Gewinn waren es alleine im Jahr 2022 – und dieses Jahr scheint noch profitabler für die Banken zu werden. In Österreich sind circa zehn Prozent des aushaftenden Immobilienkreditvolumens fix verzinst. Es gibt dann noch Mischformen zwischen fix und variabel und rein variabel verzinste Kredite. In Österreich hat es Tradition, dass Marktrisiken, wie zum Beispiel Änderungen von Zinsen, auf die Kreditnehmer:innen abgewälzt werden. Wir haben auch die negativen Erfahrungen mit den extrem riskanten Fremdwährungskrediten gemacht, die von österreichischen Banken vergeben wurden.

Der Mietendeckel in der von der Bundesregierung präsentierten Form ist eine Farce. Die größten Mieterhöhungen – von bis zu 25 Prozent in nur wenigen Monaten – liegen bereits in der Vergangenheit.

Helene Schuberth, ÖGB-Chefökonomin

Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Kreditnehmer:innen zu helfen?

Aktuell werden verschiedene Varianten diskutiert. Welche man wählt, hängt davon ab, ob viele oder eine überschaubare Gruppe von Kreditnehmer:innen betroffen ist. Handelt es sich um wenige Betroffene, könnte man sich mit kostenlosen Stundungen und Laufzeitverlängerungen behelfen. Oder aber, man könnte einen Härtefallfonds einrichten. Kreditnehmer:innen in Notlage könnten um einen Zuschuss ansuchen. Man könnte auch Banken verpflichten, zu einem für die Kreditnemer:innen günstigen Zinssatz den variablen Kredit in einen fix verzinsten Kredit umzuwandeln. Wird aber die Zinsbelastung zu einem umfassenden Problem, bei dem immer mehr Kreditnehmer:innen in Zahlungsschwierigkeiten geraten, könnte man durchaus neue Wege wählen, wie zum Beispiel einen Zinsdeckel nur für Haushalte mit niedrigem Einkommen – und bis zu einer bestimmten Kredithöhe.

Maßnahmen gegen die Teuerung kosten den Staat Geld. Um sie zu refinanzieren, könnten die Einnahmen an anderer Stelle erhöht oder die Ausgaben gekürzt werden. Was ist Ihre Lösung?

Der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) und die Arbeiterkammer (AK) haben bereits zu Beginn der Teuerung ein Modell für eine Übergewinnsteuer für Energieunternehmen vorgelegt, das weit über die Minimalvariante der Bundesregierung hinausgeht und fünf bis zehn Milliarden Euro innerhalb von drei Jahren eingebracht hätte. Zudem ist es an der Zeit, dass die wenigen, extrem reichen Haushalte endlich ihren gerechten Teil zum Steuerkuchen beitragen. Wir brauchen dringend eine Vermögensteuer und eine Erbschaftsteuer. Die Bundesregierung muss außerdem die Körperschaftssteuersenkung rückgängig machen und wieder auf das Vorkrisenniveau erhöhen.

Seit einiger Zeit werden in Österreich eine Erbschaft- und eine Vermögensteuer diskutiert. Wie könnte deren Ausgestaltung aussehen, was würde sie bringen und wer wäre davon betroffen?

In unserem Steuersystem gibt es eine enorme Schieflage. Fast 80 Prozent der Einnahmen aus Steuern und Abgaben kommen von Arbeit und Konsum, nur acht Prozent von Vermögen oder Unternehmensprofiten. Gleichzeitig besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung bis zu 50 Prozent des gesamten Vermögens. Eine klug ausgestaltete Vermögen- oder Erbschaftsteuer kann diese Schieflage ändern. ÖGB und GPA haben ein konkretes Vermögensteuermodell vorgelegt, aber auch andere Modelle kursieren. Diese würden Einnahmen von mehreren Milliarden Euro bringen – allen gemein ist, dass sie hohe Freibeträge vorsehen und dadurch zumindest die ärmeren 96 Prozent der Bevölkerung nicht betroffen wären. Vermögensteuern werden übrigens nicht nur von Ökonom:innen oder Politiker:innen diskutiert. Wir sehen seit Jahren eine stabile Mehrheit für Vermögensteuern in unterschiedlichsten Umfragen – die Österreicher:innen wünschen sich ganz klar eine Vermögensteuer.

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.