Wenn die Europäische Kommission dem Europäischen Rat sozial- oder beschäftigungspolitische Vorschläge vorlegt, muss sie zuvor die europäischen Sozialpartner anhören. Die europäischen Sozialpartner setzen sich aus dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), der Europäischen Vereinigung der Arbeitgeber- und Industrieverbände (UNICE) und dem Europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) zusammen.
Dass gerechte Löhne für alle Beschäftigten in der EU ein notwendiges und grundvernünftiges Vorhaben sind, zeigen die Zahlen. Eurostat rechnet die Bandbreite der Mindestlöhne in der EU vor: Sie reicht von knapp 290 Euro in Bulgarien bis fast 2.100 Euro in Luxemburg. Das sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob auch alle Beschäftigten im jeweiligen Land diese Mindestlöhne bekommen. Wie kommen die Staaten auf ihre Löhne? In der EU gibt es unterschiedliche Lohnfindungssysteme: Kollektivvertrags- oder Tarifverhandlungen auf der einen und gesetzlich festgelegte Löhne auf der anderen Seite. Kollektivvertragsverhandlungen, wie wir sie in Österreich kennen, gibt es auch in Italien und in den skandinavischen Ländern, aber auch in der Schweiz. In Deutschland gibt es sowohl Tarifverhandlungen als auch einen gesetzlichen Mindestlohn, in allen anderen EU-Ländern wird der Mindestlohn ausschließlich gesetzlich geregelt.
Verhandlungen unter Sozialpartnern …
Lohngestaltung über Tarifverträge findet man in der Regel überall dort, wo es große Gewerkschaftsverbände einerseits und Arbeitgeberverbände andererseits gibt – und eine funktionierende etablierte Verhandlungskultur, also zum Beispiel in Österreich. An diesen Systemen will der Schmit-Vorschlag auch nicht rütteln. ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian ist über die Signale der Kommission in Richtung Stärkung der sozialen Säule erfreut: „Die Mindestlohninitiative ist gut, vor allem mit dem Fokus auf Stärkung der Kollektivverträge. Österreich hat ein vorbildliches Kollektivvertrags-System. Der ÖGB ist dennoch für eine europäische Initiative, denn wir müssen die Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern unterstützen.“
… und Gesetzesbeschlüsse
22 von inzwischen leider nur mehr 27 EU-Staaten haben keine mit dem österreichischen System vergleichbare Art der Lohnfestsetzung. Die Ursache liegt oft darin, dass es keine Verhandlungspartner auf Branchenebene gibt – sei es, weil es keinen Arbeitgeberverband gibt oder weil es keinen einheitlichen Gewerkschaftsverband wie etwa den ÖGB gibt, sondern mehrere parteipolitisch ausgerichtete Gewerkschaften. In Frankreich zum Beispiel gibt es fünf große Gewerkschaftsbünde. In Ländern ohne KV-Systeme werden Mindestlöhne gesetzlich festgesetzt – abhängig von den jeweiligen politischen Mehrheiten.
In Deutschland gibt es beides: Gewerkschaften verhandeln ähnlich wie in Österreich Tarifverträge in Branchen, und darüber hinaus gibt es seit 2015 auch einen gesetzlichen Mindestlohn. Alle zwei Jahre passt eine von der Bundesregierung berufene Mindestlohnkommission die Höhe an. 2020 liegt der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland bei 9,35 Euro pro Stunde.
Wie viele Beschäftigte von den kollektivvertraglich vereinbarten Löhnen profitieren, reicht von weit über 90 Prozent – in Österreich spricht man von 98 Prozent – bis 15 Prozent in Litauen. Das heißt, dass im EU-Schnitt 6 von 10 Beschäftigten kollektivvertraglich entlohnt werden.
Würde oder Armut?
Innerhalb der europäischen Gewerkschaften wird zwar beiden Systemen ihre Berechtigung zugesprochen – nach dem Motto: Gesetzliche Mindestlöhne sind besser als gar keine Spielregeln –, Tarifverhandlungssystemen wird aber klar der Vorzug gegeben.
„In den meisten EU-Mitgliedsstaaten sind Menschen, die gesetzliche Mindestlöhne erhalten, armutsgefährdet“, sagt Esther Lynch, Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes EGB. In den 22 Staaten liegen die gesetzlichen Mindestlöhne unter der Armutsgrenze von 60 Prozent der Medianeinkommen. In zehn Staaten liegt der Mindestlohn bei 50 Prozent oder weniger des nationalen Medianeinkommens. „Das heißt, dass sich Millionen Menschen in der EU kein würdiges Leben leisten können – trotz Vollzeitjobs“, kritisiert Lynch. „Der ganze Sinn eines Mindestlohns ist es doch, eine Grenze zwischen einer würdigen Existenz und Armut zu ziehen. Die Tatsache, dass gesetzliche Mindestlöhne quer durch Europa wissentlich unter der Armutsschwelle festgesetzt werden, ist skandalös. Wer Vollzeit arbeitet, darf nicht dazu gezwungen sein, sich zwischen Heizen oder Essen entscheiden zu müssen.“
Für den EGB muss die Stärkung von kollektivvertraglichen Lohnfindungssystemen im Vordergrund der Initiative stehen. „Das ist der beste Weg, um diese Hungerlöhne zu beenden.“ Um Kollektivvertragsverhandlungen zu stärken, braucht man übrigens keine neuen Ideen – ein alter Hut tut’s auch: Das geht mit vielen Gewerkschaftsmitgliedern und engagierten, mutigen BetriebsrätInnen.
Drei Fragen zum Thema an Nicolas Schmit

Kommissar für Beschäftigung
und Soziales
Wie ist es in der EU um die Löhne und die Produktivität bestellt?
Die Lohnunterschiede in Europa, insbesondere bei den Mindestlöhnen, sind enorm. Es ist eine Tatsache, dass Produktivität und Löhne überhaupt nicht übereinstimmen. Wir brauchen ein faires Verhältnis zwischen Löhnen und allgemeiner wirtschaftlicher Entwicklung. Niedrige Löhne sind auch nicht unbedingt ein gutes wirtschaftliches Argument.
Wie stehen Sie zu etablierten Tarifsystemen wie jenem in Österreich?
Ihr habt ein gutes System für die Lohnfindung – in dem Sinne, dass praktisch 80 bis 90 Prozent der Arbeitnehmer über Tarifpolitik abgedeckt sind. Das ist die bessere Lohnfindung. Das ist eigentlich unser Ziel, Tarifpolitik und Sozialpartnerschaft zu stärken. Weil das aber ein eher längerfristiges Ziel ist, brauchen wir zusätzlich auch bessere Mindestlöhne.
Welches Ziel haben Sie sich beim Thema Mindestlohn in der EU gesteckt?
Es wird keinen einheitlichen Mindestlohn für ganz Europa und auch keine einheitliche Art und Weise, Mindestlöhne zu fixieren, geben. Wir brauchen mehr Angleichung und höhere Löhne in den Ländern, in denen sie niedrig sind. Wir wollen soziale Angleichung parallel zur wirtschaftlichen Angleichung. Wir wollen Löhne, die junge Menschen zum Verbleib in ihren Ländern ermutigen.
Nani Kauer
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/20.
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