Arbeit&Wirtschaft: Von Washington D.C. bis Wien erleben wir einen Rechtsruck. Wie können niedergeschlagene Menschen derzeit Hoffnung schöpfen?
Heinz Fischer: Das Ergebnis in den USA enttäuscht auch mich, aber ich bin kein Pessimist. Die Menschen neigen dazu, die Vergangenheit positiv zu bewerten, weil die Probleme der Vergangenheit schließlich überwunden wurden. Die Zukunft hingegen sehen wir oft mit Skepsis. Vor uns liegt eine Ungewissheit, der wir uns nur vorsichtig nähern wollen. So entsteht ein schiefes Bild.
Matthias Hauer: Beim Thema Hoffnung zurückgewinnen müsste es zuerst heißen, dass man die Hoffnung verloren hat. Aber ich glaube, man darf nicht gleich die Hoffnung aufgeben, nur weil eine Wahl nicht so ausgegangen ist, wie man sich das gewünscht hat. Wir müssen das als Ansporn nehmen, unserem eigenen politischen Aktivismus nachzugehen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.
Gesellschaft ist verhandelbar und veränderbar. Je mehr
sich zusammentun, desto größer ist die Chance,
das gemeinsame Ziel zu erreichen.
Heinz Fischer,
Bundespräsident a. D.
Hat man als ehemaliger Politiker ein schlechtes Gewissen oder selbst das Gefühl, dass die Politik einst Dinge verschlafen hat – Stichwort „Klimakrise“ zum Beispiel?
Heinz Fischer: Ich würde nie behaupten, dass in der Vergangenheit keine Fehler gemacht wurden, und die werden auch in Zukunft gemacht werden. Die fehlerfreie Politik ist noch nicht erfunden worden. Politik ist immer ein widersprüchlicher Prozess zwischen Pro und Kontra, zwischen schnell und langsam, zwischen gerecht und ungerecht. Als das Thema Umweltprobleme in den 1970er-Jahren zum ersten Mal auftauchte, waren wir zunächst ängstlich und unbeholfen. Die Klimabewegung ist mittlerweile gewachsen, und das wird sie auch noch weiterhin. In 30 Jahren werden wir auf heute zurückblicken und neue Sichtweisen gewonnen haben. Und gleichzeitig werden wir auch dann mit einer gewissen Sorge und auch Neugierde in die Zukunft blicken, wie es in der jeweiligen Gegenwart immer der Fall ist.
Was können Ältere von Jüngeren lernen?
Matthias Hauer: Der Hang zur Veränderung geht oft von der Jugend aus – zum Beispiel bei studentischen Protesten. Bei Themen wie dem Klimawandel oder sozialer Ungerechtigkeit ist es zwar deprimierend, dass in der Vergangenheit nicht so viel passiert ist. Was mich aber immer mehr frustriert, ist Tatenlosigkeit im Hier und Jetzt. Wenn ich in die Zukunft schaue, dann weiß ich, dass sich jetzt etwas ändern muss. Viele in meinem Alter engagieren sich, weil sie Angst vor einer Zukunft haben, in der es uns schlechter gehen wird. Ich glaube, dass die Jugend eher bereit ist, das System grundlegend zu verändern, und nicht nur im Kleinen.
Heinz Fischer: Die Frage ist berechtigt, aber vielleicht noch wichtiger ist, was die Jungen von den Älteren lernen können. Die Älteren waren selbst einmal jung, können sich in die Situation hineinversetzen und haben zudem das Wissen der älteren Generationen. Es ist der Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Alt und Jung, der so wichtig ist.
Wo gibt es im Alltag Räume, in denen dieser Austausch stattfinden kann?
Heinz Fischer: Adolf Schärf oder Franz Jonas, selbst einst Bundespräsidenten, waren früher für mich Vorbilder und Lehrer. Es war unglaublich interessant, Leute wie sie von Angesicht zu Angesicht fragen zu können: Wie habt ihr das gemacht? Jahrzehnte später sollte ich dann die gleichen Aufgaben als Politiker und Bundespräsident haben. Und auch viele andere Persönlichkeiten waren Vorbilder und Gesprächspartner:innen.
Matthias Hauer: Ich bin ein großer Fan des Austauschs mit Älteren, weil man viel lernen kann. Im regulären Bildungssystem findet ein Austausch zwischen den Generationen viel zu wenig statt. Solange es möglich ist, versuche ich in meinen Aktivist:innengruppen, Zeitzeug:innengespräche mit Überlebenden des Holocaust zu organisieren. Es ist eine große Verantwortung, ihr Wissen weiterzugeben, und in gewisser Weise auch ein Privileg. Ich frage mich, wie es sein wird, wenn in 20 Jahren eine Generation heranwächst, die mit niemandem von ihnen mehr sprechen kann.
Heinz Fischer: Aber in 40 Jahren werden Jüngere mit dir darüber reden, und du kannst ihnen dein Wissen weitergeben.
Matthias Hauer: Ja, vielleicht.
Wenn es das Bildungssystem nicht
schafft, dann braucht es gute Jugendorganisationen
und -verbände, um Leute zu politisieren.
Matthias Hauer,
Bundesjugendsekretär
der ÖGJ
Apropos etwas weitergeben: Wie kann man Menschen dazu bringen, sich politisch zu engagieren – gerade in schwierigen Zeiten wie jetzt?
Matthias Hauer: Wenn es das Bildungssystem nicht schafft, dann braucht es eben gute Jugendorganisationen und -verbände, um Leute zu politisieren. Aber ein großer Impuls kommt durch die Krisen selbst: Viele sind mit den herrschenden Umständen unzufrieden und wollen aus eigenem Antrieb etwas tun. Aus gewerkschaftlicher Sicht gibt es einen gesetzlichen Rahmen, der die Mitbestimmung auch für Lehrlinge regelt – nämlich die Jugendvertrauensräte. Sie sind das A und O der politischen Partizipation im Betrieb. Viele identifizieren sich über die Arbeit und haben natürlich ein Recht darauf, mitzubestimmen, was im Betrieb passiert. Genau da muss man ansetzen und das fördern. So kommen wir zur generationenübergreifenden Arbeit: Betriebsräte müssen hier auf die Jungen schauen und ihnen helfen, mitzumachen. Jugendförderung muss aktiv betrieben werden, damit das System langfristig funktioniert.
Heinz Fischer: Ich glaube, dass man die Menschen vor allem dann gewinnen kann, wenn man ihnen klarmacht, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht starr und unveränderbar sind; dass es die Aufgabe jedes und jeder Einzelnen ist, an einer Verbesserung und Humanisierung mitzuwirken. Man darf nicht die Hände in den Schoß legen und meinen, man könne nichts tun. Bringen wir die Verhältnisse zum Tanzen! Es gibt ein Problem, und es wird auch eine Lösung geben. Eine Konsequenz dieses Denkens ist zum Beispiel die historische Schaffung und die heute so entscheidende Arbeit von Gewerkschaftsbund oder Arbeiterkammer. Gesellschaft ist verhandelbar und veränderbar. Je mehr sich zusammentun, desto größer ist die Chance, das gemeinsame Ziel zu erreichen.
Merkt man in der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ), dass junge Menschen angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen nach Orientierung suchen oder deshalb aktiv werden?
Matthias Hauer: Auf jeden Fall, das merkt man sehr stark. Die Situation ist ja vielseitig in Österreich, die Regionen sind unterschiedlich groß und unterschiedlich strukturiert. Eine Frage, die junge Menschen beschäftigt, ist die, ob es in ihrer Region genug Lehrstellen gibt. Eine wirtschaftliche Situation, die zulässt, dass Firmen genug Lehrlinge ausbilden, ist unser oberstes Ziel. Kindern und Jugendlichen in Österreich sollen alle Türen offenstehen. Die schwierige wirtschaftliche Lage, in der wir uns befinden, ist aber nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern menschengemacht. Und da brauchen die Menschen Antworten, auch soziale. Wie vermeiden wir, dass Arbeitnehmer:innen in Niedriglohnsektoren rutschen und Leute in Österreich unter Kollektivvertrag bezahlt werden? Für solche Angelegenheiten haben wir eine starke Sozialpartnerschaft, und das wissen auch viele Junge zu schätzen.
Sowohl in der Politik als auch in Betrieben ist die alternde Gesellschaft ein zentrales Thema. Viele Arbeitnehmer:innen gehen in Pension, Firmen müssen in Sachen Alter divers aufgestellt sein, damit das „Werkl“ gut weiterrennt. Was sind da die Erfahrungen als Altbundespräsident und in der Gewerkschaftsjugend?
Heinz Fischer: Eine der interessantesten Staffelübergaben, die ich erlebt habe, war die von Bruno Pittermann an Bruno Kreisky im Jahr 1967 als Vorsitzender der SPÖ. Kreisky hat der österreichischen Politik den nötigen neuen Sauerstoff gegeben – mit einfachen Prinzipien hat er Reformen in der Innen- und Außenpolitik sowie in der Wirtschaft vorangetrieben. Er hat sich erfahrene Menschen als Berater:innen an seine Seite geholt, zum Beispiel Hertha Firnberg als Wissenschaftsministerin. Zu meiner Zeit bin ich in ihre Fußstapfen getreten und habe ihre Ideen weiterverfolgt, um die Universitäten zu modernisieren. Die Balance zwischen Kontinuität und Innovation ist entscheidend – nicht zuletzt im Bundespräsidentenamt. Das Handeln sollte berechenbar und verständlich sein. Es geht aber darum, immer wieder zu hinterfragen, welche neuen Antworten die Gesellschaft braucht. Eine „Des hamma immer scho so gmocht, daher brauch ma nix ändern“-Mentalität ist fehl am Platz.
Matthias Hauer: Ich glaube, das, was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen: Erfolgreiche Jugendvertrauensräte entstehen, wenn Vorgänger:innen greifbar sind, Wissen weitergeben und neue Mitglieder unterstützen. Wo dieser Austausch fehlt, geht viel Potenzial verloren.
Nach vielen Krisen gilt wieder: Die #EU muss sich für ihre Bürger:innen rechnen. Doch das ist leichter gesagt als getan – dafür braucht es ein höheres Budget. Wir zeigen, woher das Geld kommen könnte. 👇
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 6. Dezember 2024 um 09:58
Können Sie bitte noch einen Kontrapunkt zu den gängigen Generationen-Klischees setzen, also etwa der „faulen Jugend“ oder den „Alten, die Jahr für Jahr immer konservativer werden“: Was schätzen Sie jeweils an der Altersgruppe des Gegenübers?
Matthias Hauer: Ich bewundere die Erfahrungen der Älteren. Sie haben Situationen gemeistert und können wertvolle Perspektiven geben. Für mich persönlich waren Gespräche mit Vorgänger:innen in meiner Funktion in der Gewerkschaftsjugend prägend und eine große Inspiration.
Heinz Fischer: Die Jugend bringt frischen Wind: Mut, Neugierde und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Diese Eigenschaften schleifen sich im Laufe des Lebens oft ab, aber sie sind der Motor für Innovation. Ohne die Jugend würde die Gesellschaft stagnieren, im Status quo feststecken und letzten Endes sogar aussterben.
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