Heidi Schrodt im Interview
Arbeit&Wirtschaft: Diesen Mai wurden die Ergebnisse der jüngsten internationalen Lesestudie PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) veröffentlicht. Sie haben gezeigt, dass in Österreich jedes fünfte Kind nicht sinnerfassend lesen kann. Gleichzeitig ergab die Auswertung der Ergebnisse, dass es auch bei der Lesekompetenz stark auf den sozioökonomischen Hintergrund der Eltern ankommt. Das weist darauf hin, dass Bildungsungleichheit weiter fortgeschrieben wird, ein Befund, der seit vielen Jahren immer wieder durch Studien bestätigt wird. Warum ändert sich daran nichts?
Heidi Schrodt: Die, die in der Schule arbeiten, wissen das seit Jahrzehnten. Aber seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie, einer Bildungsvergleichsstudie, gibt es dazu auch hard facts. Und das war vor 23 Jahren. Was sind die Hauptursachen? Da gibt es eine ganze Reihe. Kinder, die von zu Hause aus mit Bildungsrückständen in den Kindergarten kommen, können auch dort nicht aufholen, weil es viel zu große Gruppen gibt und die Ausbildung der Elementarpädagog:innen nicht adäquat ist. Wir sind inzwischen das einzige Land in der OECD, in dem diese Ausbildung nicht auf tertiärem Niveau – als auf der Uni oder Fachhochschule – stattfindet. In Wahrheit gehört aber noch früher angesetzt. In Finnland oder Norwegen findet zum Beispiel aufsuchende Familienarbeit von Geburt an statt. Das heißt in Familien, wo man davon ausgehen kann, dass ein Kind nicht genügend Förderung bekommt, wird Unterstützung angeboten. Verschärft wird bei uns die Problematik dadurch, dass es nur ein verpflichtendes Kindergartenjahr gibt.
Wenn von Bildungs- und Entwicklungsrückständen gesprochen wird, denken die meisten als erstes an Deutsch. Woran kann es Kindern aber noch mangeln?
Da geht es zum Beispiel um Fertigkeiten, wie Schuhe binden zu können. Da geht es aber auch darum, in der Erstsprache, die auch eine andere als Deutsch sein kann, einen guten Wortschatz zu haben, der bei vielen Kindern um ein Vielfaches kleiner ist als der eines Kindes aus einer so genannten bildungsbürgerlichen Familie.
Was macht die Schule dann ab dem Eintritt der Kinder falsch, sodass sich die Kluft zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien noch weiter vergrößert anstatt sich zu verringern?
Die Volksschule hat in der Art, wie sie organisiert ist, keine Möglichkeit, die Defizite aufzuholen. Und hier kommt dann schon auch die Landessprache ins Spiel, weil der Unterricht natürlich auf Deutsch ist und viele Kinder die Unterrichtssprache kaum oder gar nicht beherrschen. Manche Schulen schaffen es bei manchen Kindern schon. Es liegt also nicht an den Lehrer:innen, sondern an den Rahmenbedingungen. Wenn ich eine Klasse mit 25 Kindern habe und im besten Fall eine zweite Lehrkraft, kann ich nicht jedem einzelnen Kind, das besondere Unterstützung brauchen würde, gerecht werden. Ich habe mir über die Jahre europaweit viele Schulsysteme angesehen und war kürzlich erst in London. Wenn man die Ressourcen und das Know-how hat, ist es möglich, einen anderen Unterricht anzubieten. Bei uns haben Tests das Ziel auszusortieren. Anderswo wird ein Lernstand festgestellt und wenn ein Kind zurückgefallen ist, wird sofort für dieses Kind ein Programm entwickelt. Ich habe eben an einer Schule in London erlebt, wie ein Kind von einer einzelnen Lehrkraft immer wieder für eine Stunde herausgeholt und dann gezielt an dessen Defiziten gearbeitet wird.
Inwiefern verstärkt die Trennung im Alter von zehn Jahren – die einen treten ins Gymnasium über, die anderen in die Mittelschule – weiter die Bildungsungleichheit?
Sehr. Wobei man sagen muss: Der Stress wurde nun schon von der vierten in die dritte Klasse Volksschule vorverlegt. Einerseits wird nun nicht nur die Schulnachricht der vierten Klasse, sondern auch das Jahreszeugnis der dritten Klasse in die Entscheidung, ob die Gymnasialreife vorliegt oder nicht, miteinbezogen. Andererseits gibt es einen Test, der zwar offiziell nicht in die Beurteilung der AHS-Reife einfließt, aber die Eltern werden nun nach diesem Test schon in der dritten Klasse beraten, wo ihr Kind nach der vierten Klasse hingehen soll. Diese so genannte Informelle Kompetenzmessung in Deutsch/Lesen sowie Mathematik ist vor zwei Jahren eingeführt worden. Diese frühe Trennung gibt es in keinem anderen OECD-Land. Dadurch geht die Schere noch weiter auseinander. Kinder kommen also mit Bildungsdefiziten in eine Schule, wo sie, vor allem in den Städten, auf viele andere Kinder mit Bildungsdefiziten stoßen, und es ist so gut wie nichts vorgesehen, um sie zu unterstützen, diese Rückstände aufzuholen. Die Ganztagsschule wäre hier ein Ansatz, aber in Wien hat sich zum Beispiel gezeigt, dass diese besonders bei bildungsbürgerlichen Eltern sehr beliebt ist und gerade Kinder, die die ganztägige Schule am meisten brauchen würden, nach wie vor nur halbtags in die Schule gehen.
Das hängt damit zusammen, dass vor allem Kinder einen Platz in einer Ganztagsschule bekommen, deren Eltern berufstägig sind.
Ja, und das schließt dann Familien aus, in denen die Mutter nicht erwerbstätig ist, etwa weil sie sich zu Hause um jüngere Geschwister kümmert oder in denen eine Erwerbstätigkeit der Mutter aus kulturellen Gründen nicht vorgesehen ist.
Bei uns haben Tests das Ziel auszusortieren.
Anderswo wird ein Lernstand festgestellt und wenn ein Kind zurückgefallen ist,
wird sofort für dieses Kind ein Programm entwickelt.
Heidi Schrodt, Bildungsexpertin und Vorsitzende der Initiative BildungGrenzenlos
Es ist jedenfalls kein Versagen der Lehrer:innen, dass sie Kinder mit Defiziten nicht ausreichend unterstützen können, sondern ein Systemproblem. Woran hakt es hier vor allem?
Eine Lehrkraft kann nicht für 25 Kinder, manchmal sogar mehr, einen Unterricht gestalten, wie er heutzutage State of the Art sein sollte. Zusätzlich mangelt es an so genanntem Unterstützungspersonal – ich sage so genannt, weil es handelt sich hier um Fachkräfte, also Schulpsycholog:innen, Förderlehrkräfte, Sozialarbeiter:innen, in manchen Ländern gibt es auch Nurses, also Pflegekräfte. Da sind wir im OECD-Vergleich auf den letzten Plätzen. Und auch das wissen wir bereits seit Jahrzehnten. Es braucht nicht jede Schule die gleiche Anzahl an Unterstützungskräften, aber gerade Schulen und Kindergärten mit Kindern, die aus Elternhäusern kommen, die sehr benachteiligt sind, sowie mit Quereinsteiger:innen, also geflüchteten und migrantischen Kindern, die quer ins Schulsystem einsteigen, müssten viel mehr Ressourcen erhalten. Und so lange das nicht flächendeckend passiert, können Lehrpersonen noch so gut und engagiert arbeiten, sie können das nicht schaffen. Inzwischen verlassen auch immer mehr den Lehrberuf, weil sie schon nach einigen Jahren nicht mehr können.
Dieses Phänomen kennen wir aus den Kindergärten, nun setzt sich das in der Schule fort. Die aktuelle Pensionierungswelle führt ohnehin schon zu Lehrer:innenmangel, wenn nun auch Pädagog:innen zusätzlich freiwillig aus dem Schuldienst ausscheiden, verstärkt das das Problem. Welche Auswirkungen sind hier bereits spürbar?
Lehrpersonen stoßen an ihre Grenzen, Unterricht fällt aus. Was wir brauchen ist eine gerechte Mittel-Zuteilung an Schulen. Die Arbeiterkammer hat hier mit dem Chancen-Index ein gutes Modell vorgelegt. Es ist eigentlich alles auf dem Tisch. Man wüsste, wie es geht, aber die ÖVP, die mit Martin Polaschek derzeit den Bildungsminister stellt, sperrt sich dagegen.
Und natürlich weg mit der Trennung nach der Volksschule. Es gibt keine Wissenschafter:innen, die diese frühe Trennung befürworten.
Heidi Schrodt, Bildungsexpertin und Vorsitzende der Initiative BildungGrenzenlos
Was muss man in der momentanen Situation tun, um Lehrer:innen im Schulsystem zu halten?
Man muss die Bedingungen verbessern. Und mit der Werbekampagne des Bildungsministers „Klasse Schule“ werden wir auch keine neuen Lehrer:innen ins System hereinholen können. Wir müssten wirklich endlich einen Kassasturz machen, parteiübergreifend, und schauen: Woran mangelt es? Wo müssen wir prioritär ansetzen? Die Umsetzung des Chancenindex wäre meiner Meinung nach ein wichtiger Hebel. Und wir brauchen eben viel mehr so genanntes Unterstützungspersonal.
Finnland hat vor Jahren einen solchen Cut gemacht, hat das Schulsystem neu aufgestellt und schneidet nun bei den PISA-Tests immer besonders gut ab. Ein Vorbild für Österreich?
Ja. Eben aufsuchende Elternarbeit, Elementarpädagogik mit Fördermöglichkeiten, denn der Kindergarten ist nicht nur Betreuung, sondern vor allem ein Ort des Lernens. In der Schule brauchen wir einen individualisierten Unterricht, der auf das einzelne Kind zugeschnitten ist, sodass kein Kind auf Grund seiner Herkunft zurückgelassen wird. All das bedingt viel mehr Personal. Je größer die Herausforderungen einer Bildungseinrichtung sind, desto mehr Ressourcen muss es geben. Und natürlich weg mit der Trennung nach der Volksschule. Es gibt keine Wissenschafter:innen, die diese frühe Trennung befürworten. Wir brauchen stattdessen eine gemeinsame Schule bis zum Ende der Schulpflicht mit starker Konzentration auf jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin. So wären auch die Arbeitsbedingungen andere und Lehrpersonen würden zurück in die Schule kommen. Die Zufriedenheit wäre für alle größer.
Wäre die Ganztagsschule auch ein Teil einer solchen Schulreform?
Selbstverständlich. Mit gratis Essen für alle Kinder und Räumen, die eine moderne Pädagogik möglich machen. In Wien, aber auch in anderen Städten, gibt es noch immer viele Gründerzeit-Schulen. In den Schulbau müsste viel investiert werden. Individualisierter Unterricht braucht auch die passenden Räume. Und die Ganztagsschule ist auch ein Ort, an dem gesportelt und musiziert wird, wo Platz für Kunst ist. Auch dafür braucht es geeignete Räume. Schule soll ja nicht nur für klassisches Lernen da sein, hier muss auch soziales Lernen ermöglicht werden, hier soll gemeinsam Sport getrieben, gesungen, Kreativität ausgelebt werden.
Es geht also darum, die gesamte Entwicklung eines Kindes in den Mittelpunkt der Schule zu stellen.
Ja. Derzeit haben wir nur einen Fokus auf das so genannte akademische Lernen. Die ideale Schule ist aber so viel mehr.
Auch das Thema Nachhilfe ist eines, das die Schere weiter aufgehen lässt: Manche Eltern können sich die Nachhilfe leisten, viele allerdings nicht.
Genau deshalb muss Förderung – sowohl bei Defiziten als auch von Begabungen und Interessen – in der Schule stattfinden, denn auch die Begabungsförderung ist in Österreich ausbaufähig. Wir versagen derzeit sowohl in der Förderung bildungsbenachteiligter und lernschwacher Schüler:innen als auch in der Förderung der Hoch- und Höchstbegabten. Auch das ginge nämlich in einer gemeinsamen Schule, wir brauchen da keine extra Hochbegabtenschulen.
Was das österreichische Schulsystem derzeit auch nicht schafft, ist, bei vielen Kindern das Interesse für MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu wecken. Vor allem Mathematik ist für viele ein angstbesetztes Fach und es bräuchte viel mehr junge Menschen, die sich nach der Matura für eine Studienrichtung aus diesen Bereichen entscheiden. Wo müsste man hier ansetzen, um mehr Kinder und Jugendliche dafür zu begeistern?
Der wesentliche Hebel ist die Pädagog:innenausbildung – da beziehe ich auch die Ausbildung der Elementarpädagog:innen mit ein. Schon im Kindergarten und später in der Volksschule kann spielerisch das Interesse für Technik und Naturwissenschaften geweckt werden. Ich muss aber als Pädagog:in wissen, wie ich das vermittle und unterrichte.
Stichwort Vermittlung: Seit Jahren sagen Expert:innen, dass die Deutschförderklassen nicht der richtige Weg sind, um Kindern, die bei ihrer Einschulung nicht ausreichend Deutsch sprechen, die Sprache zu vermitteln. Die Politik hält dennoch an diesem Konzept fest. Was ist so falsch daran?
Falsch ist das Konzept des so gut wie ganz getrennten Unterrichts. Schon vor der Einführung der Deutschförderklassen wusste die Forschung, dass das Modell der getrennten Klassen nicht zielführend ist. Am besten funktioniert der Spracherwerb, wenn der Großteil des Unterrichts gemeinsam mit Deutsch sprechenden Kindern stattfindet und es ergänzend gezielte Förderung in kleinen Gruppen gibt. Das nicht so zu handhaben, war eine politische Entscheidung.
Die #Studie von @erna_nairz zu unserer heutigen PK Praxisschock über die Hürden von jungen Lehrer:innen beim Berufsteinstieg findet ihr hier 👇https://t.co/ChPqDX8WLC
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) September 20, 2023
Was ist die Motivation dahinter?
Banal gesagt: Das ist ein Signal an rechte Wählerschichten. Die Ausländer:innen sollen extra sein. Inzwischen gibt es Begleitstudien dazu, die bisher letzte von Christiane Spiel vor rund einem halben Jahr, die allesamt einen kritischen Befund gebracht haben. Die Politik hält dennoch und damit wider besseren Wissens an dem Konzept fest. Manche Kinder verlieren durch diese Regelung bis zu zwei Schuljahre und sitzen dann mit zwei Jahre Jüngeren in der Volksschule.
Schafft das dann nicht wiederum soziale Probleme?
Ja. Das ist eine traurige Angelegenheit. Es passt aber leider zum Thema Bildungsgerechtigkeit beziehungsweise -ungerechtigkeit. Denn auch durch diese Deutschförderklassen verschärft sich die Ungerechtigkeit für die betroffenen Kinder. Was sie bräuchten, wäre sinnvolle Unterstützung.