Beleidigungen und derbe Sprüche, weil das Outfit nicht passt. Nacktbilder, die plötzlich jeder Schulkollege und jede Schulkollegin am Handy hat. Beschimpfungen, Verächtlichmachungen. Bewusst inszenierte Videos, in denen das Opfer in entwürdigenden Situationen oder auch als Opfer von Gewalt gefilmt wird. „Tu uns den Gefallen und bring dich um“, Sätze wie dieser sind in sozialen Netzwerken unter Jugendlichen, kaum dem Kindesalter entwachsen, schon lange keine Seltenheit mehr. Was viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durchmachen, ist für Eltern, Erwachsene und vor allem für die breite Öffentlichkeit wohl kaum vorstellbar. Das Leid, das sie und meist auch ihre Angehörigen erleben, verdient bei Weitem mehr Aufmerksamkeit als einige Schlagzeilen oder die eine oder andere Diskussionssendung im TV.
Zahlen über Opfer von Cybermobbing, Statistiken, wie viele junge Menschen nach dem, was man „Cybermobbing“ nennt, Suizid verübt haben, gibt es kaum.
Zahlen über Opfer von Cybermobbing, Statistiken, wie viele junge Menschen nach dem, was man „Cybermobbing“ nennt, Suizid verübt haben, gibt es kaum. Viele Opfer schweigen über das ihnen Widerfahrene, in der Hoffnung, dass das Mobbing aufhört. Die wenigsten suchen sich aktiv Hilfe. Mindestens seit den vergangenen drei Legislaturperioden kündigen die jeweiligen Regierungen unter dem Schlagwort „Hass im Netz“ an, das Thema in Angriff zu nehmen.
Viele Opfer schweigen über das ihnen Widerfahrene, in der Hoffnung, dass das Mobbing aufhört. Die wenigsten suchen sich aktiv Hilfe.
Anfang September legte Türkis-Grün schließlich ihr neues Gesetzespaket vor – mit erheblichen Verschärfungen: Schwere Beleidigungen, Mobbing, Bloßstellen sind nun nicht mehr nur dann strafbar, wenn diese als „fortgesetzte Tathandlungen“ begangen werden, sondern schon ab dem ersten Posting. Die Bereitschaft von Betroffenen, sich zu wehren und Anzeige zu erstatten, soll durch einen niederschwelligeren Zugang gesteigert werden. Opfer können sich auf einem zivilrechtlichen Weg einfach an die Gerichte wenden, diese sind dann angehalten, die Täter auszuforschen (falls diese unbekannt sind) und den Fall zu verfolgen. Auch der Tatbestand der Verhetzung wird verschärft, diese ist künftig auch bei Einzelpersonen strafbar, nicht mehr nur dann, wenn es gegen eine gesellschaftliche Gruppe geht. Und nach Suiziden, auch das sieht das neue Gesetz vor, können Angehörige – anders als in der alten Regelung – das Cybermobbing weiter gerichtlich verfolgen.
Trotz der in Summe positiven Reaktionen auf das neue Paket sind sich Expert*innen einig: Nur ein breiter gesellschaftlicher Bewusstseinswandel kann gegen Cybermobbing gerade bei Jugendlichen helfen – und Zivilcourage. Gerade aber das Einschreiten von Unbeteiligten, Zeug*innen und Außenstehenden passiert online so gut wie gar nicht. Das fanden Soziolog*innen der Universität Wien bereits 2019, nach Auswertung einer breit angelegten Studie, heraus. Und genau hier will nun das Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) ansetzen.
Expert*innen sind sich einig: Nur ein breiter gesellschaftlicher Bewusstseinswandel kann gegen Cybermobbing gerade bei Jugendlichen helfen – und Zivilcourage.
„Im Gegensatz zu Situationen, die in der Schule oder im Alltagsleben passieren, gibt es online kaum zivilcouragiertes Handeln, wenn es zu Mobbing oder Bedrohungsszenarien kommt“, fasst Christa Bauer, Gesch.ftsführerin des MKÖ, die Ergebnisse der Studie der Uni Wien zusammen. „Wir wissen, dass fast zwei Drittel aller Jugendlichen einmal Opfer in sozialen Medien waren. Das reicht von Verspottung bis zu handfestem Mobbing.“ Bemerkenswert sei, sagt Bauer, dass es eine enge Verbindung im Online-Bericht in der Opferund Tätererfahrung gibt. Dahinter verbirgt sich wohl eine Abwehr und Ablenkungsdynamik: Wer Opfer war, versucht später bei sich bietender Gelegenheit als Täter auf andere abzulenken.
Angst vorm Opfersein
Fast jede*r zweite Jugendliche, sagt Bauer, bekomme häufig Mobbing-Attacken im Netz gegen andere Jugendliche mit. 86 Prozent lesen selbst häufig Hasskommentare. Sogenannte „Bystander“ greifen dann in eine Mobbing-Situation ein, wenn sie mit dem Opfer bekannt oder befreundet sind. Unsicherheit bei der Bewertung des Gelesenen oder Gesehenen, eine Zuschreibung von eigener Verantwortung des Opfers („selbst schuld“) oder einfach fehlendes Bewusstsein über die Tragweite der Situation sind laut Studie weitere Gründe. Andere Mitleser*innen oder Zuseher*innen lassen sich viel eher auf die Seite der Aggressoren ziehen. Gegen eine einmal etablierte Dynamik mag man sich eben nicht stellen. „Es ist die Angst, selbst Opfer zu werden“, sagt Bauer.
Seit Ende August baut das MKÖ nun unter dem Titel „Zivil.Courage.Online“ seine bestehenden Trainings aus. Unter Mithilfe renommierter deutscher Expert*innen der Universität Göttingen werden nun Trainer*innen geschult. Schulen und Institutionen können über die Webpage zivilcourage.at Termine buchen. „Die Trainings dauern bis zu vier Stunden. Dabei wird zwar vor Ort, allerdings mit Einsatz digitaler Trainingsmethoden gearbeitet“, berichtet Bauer.
Ähnlich wie beim Online-Game „Decount“ der Plattform extremismus.info, wo es um Radikalisierung und Extremismus geht, steigen Jugendliche in eine eigens geschaffene Social-Media-Plattform ein und spielen in einem vierstündigen Training Situationen durch, wie sie sie häufig in sozialen Netzwerken erleben. Bis zu 15 Jugendliche nehmen an den Chats teil. Durchgespielt wird dann eine Situation wie diese: Die Gruppe ist beispielsweise als Schulklasse in einer Jugendherberge. Von einem Schüler tauchen dann im Netzwerk kompromittierende Fotos auf, beispielsweise von einem nassen Bettlaken – mit entsprechenden Kommentaren. Die Teilnehmer*innen haben dann verschiedene Handlungsoptionen, wie sie reagieren können.
Immer wieder sehen wir, dass sich die Jugendlichen, denen aufgetragen wurde, Solidarität mit einem Shitstorm-Opfer zu zeigen, schließlich aufgrund des Drucks den Angreifern anschließen.
Christa Bauer, Geschäftsführerin des MKÖ
Auch hier ließen sich Dynamiken beobachten, aus denen die Gestalter*innen der Initiative für die Ausbildung der Trainer*innen und die Konzeption der Trainings wichtige Erkenntnisse gewinnen konnten. „Immer wieder sehen wir, dass sich die Jugendlichen, denen aufgetragen wurde, Solidarität mit einem Shitstorm-Opfer zu zeigen, schließlich aufgrund des Drucks den Angreifern anschließen“, erklärt Bauer.
App für Zivilcourage
Wichtig sei, so betont man im MKÖ, ein besonders niederschwelliger Zugang. Die Website zivilcourage.at wird auch Angebote enthalten, die mit nur geringem Zeitbudget genutzt werden können – beispielsweise eine Handlungsanleitung, was in nur zwei Stunden zum Thema erarbeitet und trainiert werden kann. Die Ziele fasst Bauer so zusammen: „Was kann ich als Einzelner in einer entsprechenden Situation tun? Wo liegen meine eigenen Grenzen, wenn ich Zivilcourage zeigen möchte? Was kann und soll ich tun, wenn ich mich in einer Situation der Hilf- und scheinbaren Ausweglosigkeit befinde?“
Das Angebot werde so konzipiert, dass auch eigenständig in Gruppen trainiert werden kann. Nächstes Jahr wird ein interaktives Video fertiggestellt werden, das sich nicht nur an Jugendliche, sondern auch an die breite Öffentlichkeit richtet. In Arbeit ist zudem eine eigene App, die neben interaktiven Trainingsangeboten wie dem besagten Social-Media-Chat auch ein Quiz und Spiele sowie Hinweise auf Service- und Meldestellen für Betroffene und Zeug*innen enthalten soll. Die Website wird laufend ergänzt und soll umfangreicheres Hintergrundmaterial anbieten.
Die neu konzipierten Trainings stehen allen Schulen und Institutionen offen, das MKÖ stützt sich hierbei auf sein bereits in den vergangenen zehn Jahren aufgebautes, breites Netzwerk. Die Trainer*innen arbeiten allesamt ehrenamtlich und gegen Aufwandsentschädigung.