Gewerkschaftsarbeit in Europa: Wenn die Rechten kommen

Viktor Orbán und Giorgia Meloni. Symbolbild für die Behindeurng von Gewerkschaftsarbeit in Europa.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sind beste Freunde, wenn es darum geht, Gewerkschaftsarbeit zu behindern. | © Yves Herman / REUTERS / picturedesk.com

Inhalt

  1. Seite 1 - Bence Havas: „Technisch gesehen ist es für das Lehrpersonal unmöglich zu streiken“
  2. Seite 2 - Salvatore Marra: „Die Regierung unternimmt nichts gegen den sinkenden Lebensstandard“
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Null Mitsprache bei Mindestlohnverhandlungen und ein Streikrecht, das immer zahnloser wird: In Ungarn und Italien haben rechte Regierungen die Gewerkschaftsarbeit massiv erschwert. Ein Gespräch mit den Gewerkschaftern Bence Havas und Salvatore Marra.
Kaum kam in Ungarn im Jahr 2010 die Orban-Regierung an die Macht, folgte eine Reform des Arbeitsrechts und damit verbunden eine Einschränkung der Gewerkschaftsrechte. Gewerkschaften, wie jene im öffentlichen Dienst, die sich besonders kritisch äußern, haben seitdem noch weniger Mitspracherechte und müssen finanzielle Einbußen hinnehmen. Auch Streiks unterliegen strengeren Auflagen. So auch in Italien, wo seit dem Jahr 2022 die Regierung Meloni das Sagen hat. Bence Havas von der ungarischen MASZSZ und Salvatore Marra von der CGIL erklären, was es bedeutet, wenn im eigenen Land alle Zeichen auf Rechts stehen.

Ungarn: Gewerkschaften werden ausgegrenzt

Bence Havas arbeitet für Magyar Szakszervezeti Szövetség, kurz MASZSZ. Dieser ungarische Gewerkschaftsbund ging im Jahr 2013  aus der Fusion zweier Gewerkschaften hervor. Mit knapp 100.000 Mitgliedern hat er die meisten Mitglieder im privaten Sektor, vornehmlich aus den Bereichen Industrie, Verkehr und Handel. Die MASZSZ ist Teil des Europäischen Gewerkschaftsbundes sowie des Internationalen Gewerkschaftsbundes.

Portrait von Bence Havas im Interview zur Gewerkschaftsarbeit in Ungarn.
Die Mitte-Rechts-Regierung in Ungarn macht Gewerkschaftsarbeit zunehmend schwer. Bence Havas spricht im Interview über die Herausforderungen. | © Bence Havas
Wie ist das Verhältnis zwischen der ungarischen Regierung und den Gewerkschaften aktuell?

Bence Havas: Ich denke, es fehlt an Austausch. Vor 2010 waren Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Regierung in Gremien organisiert, in denen über politische Themen diskutiert wurde. Das Forum, das nun den Mindestlohn berät, ist aber in keinem Rechtsakt aufgeführt, beruht „nur“ auf einer zivilrechtlichen Vereinbarung. Zu Gesetzesvorschlägen werden wir nicht wirklich befragt. Es wird zwar über die Höhe der Mindestlöhne diskutiert, aber letzten Endes entscheidet die Regierung. Außerdem fehlt die Geschlossenheit untereinander, weil es in Ungarn eine zersplitterte Gewerkschaftslandschaft gibt. Kritische Äußerungen von Gewerkschaften, wie z.B. des Gewerkschaftsbundes für den öffentlichen Sektor, zu der auch die Lehrergewerkschaft gehört, werden von der Regierung nicht geduldet. Der Gewerkschaftsbund für den öffentlichen Dienst wurde nicht einmal zu Konsultationen über den Mindestlohn eingeladen. Uns, die MASZSZ, würde ich als eher kritisch gegenüber der Regierung bezeichnen. Andere Gewerkschaften im Privatsektor stehen den Regierenden näher. Das führt aber auch nicht zu einem besseren Ergebnis.

Welchen Einfluss hatte Ihre Gewerkschaft auf die Mindestlohn-Debatte?

Angesichts einer hohen Inflationsrate von 18 Prozent im Jahr 2023 schlug die Regierung eine Mindestlohnerhöhung um 15 Prozent vor, der Mindestlohn für Facharbeiter:innen sollte aber nur um zehn Prozent erhöht werden. Unsere Gewerkschaft war dagegen. Am Ende wurde der Regierungsvorschlag aber trotzdem als gemeinsames Ergebnis der Konsultation zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Regierung verkündet. 

Wo gab es sonst Veränderungen?

Die Regierung hat erst Anfang Februar 2024 das bisherige Abzugssystem – die Abführung der Gewerkschaftsbeiträge durch den Arbeitgeber im öffentlichen Sektor – abgeschafft. Die Mitglieder müssen sich nun selbst, um die Einzahlung ihres Mitgliedsbeitrags kümmern. Gewerkschaften des öffentlichen Sektors werden also viele Mitglieder verlieren. In der Privatwirtschaft ist das Abzugssystem noch in Kraft. Aber wir wissen, dass es auch für unsere Gewerkschaft abgeschafft werden kann, wenn wir zu kritisch werden. Außerdem gab es Einschränkungen im Streikrecht.

Wie sehen diese aus?

Arbeitnehmer:innen im öffentlichen Sektor müssen im Streikfall ein Mindestdienstleistungsniveau einhalten. Dieses Niveau ist aber nicht klar definiert. Das erschwert die Organisation von Streiks. So erhöhte die Regierung die Mindestanforderungen, die Lehrer:innen während eines Streiks zu erfüllen haben. Sie müssen praktisch die gleichen Leistungen, wie im Normalbetrieb erbringen. Technisch gesehen haben sie es damit dem Lehrpersonal unmöglich gemacht, zu streiken.

Wie wirkt sich das angespannte Verhältnis zwischen Gewerkschaften und der Regierung auf die Situation von Arbeitnehmer:innen aus?

Das derzeitige ungarische Wirtschaftsmodell ist auf Direktinvestitionen aus dem Ausland angewiesen. Um mehr ausländisches Kapital zu bekommen, will die Regierung die Preise für Arbeit bewusst niedrig halten. Deshalb wurde das Arbeitsrecht – ohne Zustimmung von Gewerkschaften – umgestaltet. Die Arbeitszeit in Ungarn zählt zu den flexibelsten in Europa. Die gesetzlichen Regelungen machen es möglich, dass Arbeitnehmer:innen bis zu 20 Tage ohne Ruhetage durcharbeiten können. Verglichen mit anderen Ländern läuft die Arbeitslosenunterstützung in Ungarn nur drei Monate. Prekär ist die Situation bei den Leiharbeiter:innen. Sie können ohne Begründung entlassen werden und werden niedriger entlohnt.

Was bedeutet es für den sozialen Frieden, wenn Gewerkschaften bedrängt werden?

Ich denke, dass eine ausreichend angemessene Vertretung der Arbeitnehmer:innen auf politischer Ebene im Moment nicht vorhanden ist. Vielleicht ist, dass der Grund, warum die extreme Rechte in Ungarn sehr stark ist und auch die Regierungspartei sich an ihr orientiert.

Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?

Für unsere Organisation, die MASZSZ, geht es nach 14 Jahren langsam wieder bergauf, obwohl uns nach wie vor Ressourcen fehlen. So hat unsere Konföderation momentan weniger als zehn Vollzeitangestellte. Der Weg zu einem effizienten Rechtsbeistand für unsere Mitglieder ist schwierig. Unser Ziel ist es, die Menschen an ihren Arbeitsplätzen so zu organisieren, dass sie sich mehr einbringen können.

Italien: Kritik an Einschränkung im Streikrecht

Salvatore Marra arbeitet für die CGIL, die größte Gewerkschaftsorganisation Italiens, die mehr als fünf Millionen Menschen vertritt. Die Gewerkschaft kämpft gegen prekäre Arbeitsverhältnisse und setzt sich für gerechtere Löhne sowie besseren Arbeitnehmer:innenschutz ein.

Portrait von Salvatore Marra auf einer Veranstaltung der Europäischen Gewerkschaft ETUC. Er spricht über Gewerkschaftsarbeit in Italien.
Salvatore Marra kämpft in Italien für die Rechte der Arbeitnehmer:innen. | © Salvatore Marra
Wie beschreiben Sie das Verhältnis zwischen der Regierung und den Gewerkschaften?

Salvatore Marra: Seitdem die Regierung vor zwei Jahren an die Macht gekommen ist, sind die Beziehungen schwieriger geworden. Erstens hat die Regierung beschlossen, den repräsentativsten Gewerkschaften drei im Nationalen Wirtschafts- und Sozialrat zu entziehen, um sie an nicht repräsentative oder sogar „gelbe Gewerkschaften“ zu vergeben. Diese schwächen die unabhängige Arbeitnehmer:innen-Vertretung und schließen Tarifverträge zu Dumpingpreisen ab. Wenn Gewerkschaften zu Konsultationen eingeladen werden, geschieht dies meist nur zur Schau. Wir werden informiert über Reformen, ohne uns wirklich einbringen zu können.

Wie hat sich die Lohndiskussion verändert?

In Italien werden die Löhne durch nationale Tarifverträge festgelegt. Diese decken mehr als 90 Prozent der Beschäftigten ab. Die Regierung schlägt vor, die Tarifverhandlungen zu dezentralisieren und auf die regionale oder betriebliche Ebene zu verlagern. Dies würde zu einer Zersplitterung und einer Schwächung der Position der Arbeitnehmer:innenvertretung führen. Wir würden die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns unterstützen, aber die Regierung und die rechten politischen Parteien sind dagegen.

In Ungarn wurde die Möglichkeit für Streiks erschwert. Wie ist das in Italien?

Wie in ganz Europa liegt das auch in Italien im Trend. Streiks werden mit übermäßigen Verwaltungsvorschriften belastet und Ministerialerlasse werden zum Verbot von Streiks verwendet. Am Tag vor einem Streik im öffentlichen Nahverkehr im November 2023 gab es eine Anordnung des weit rechten Verkehrsministers Salvini. Den Beschäftigten wurden Sanktionen angedroht, wenn sie acht Stunden lang streiken und zur Arbeit gehen würden. Am Ende dauerte der Streik nur vier Stunden.

Wie wirkt sich all das auf die Situation von Arbeitnehmer: innen und armutsbetroffenen Menschen aus?

Die erste Entscheidung, die diese Regierung zur Bekämpfung der Armut getroffen hat, war die Abschaffung des von der Vorgängerregierung eingeführten Mindesteinkommenssystems. Italien war eines der letzten Länder in Europa, das ein Mindesteinkommenssystem einführte, um die Armut zu lindern. Und es war das Erste, das es abschaffte. Die derzeitige Regierung unternimmt nichts gegen den sinkenden Lebensstandard der Menschen. Die Löhne haben mit der galoppierenden Inflation der letzten Jahre nicht Schritt halten können.

Welche Auswirkungen hat all das auf den sozialen Frieden und die Demokratie?

Die Regierenden wollen uns dazu bringen, unsere Aufgaben nicht mehr wahrzunehmen, aber wir arbeiten dagegen. Zur Wahrung des sozialen Friedens berufen wir uns zum Beispiel auf die Bürger:innenrechte. Wir sind entschieden gegen die vorgeschlagene Verfassungsreform, die Italien zu einer Präsidialrepublik machen und damit die postfaschistische Verfassung untergraben würde.

Was muss sich Ihrer Meinung nach rasch ändern?

Die Beziehung zu den politischen Parteien sollte konstruktiver werden. Solange wir in der Defensive sind und nicht richtig konsultiert werden, können wir keine konstruktive Rolle spielen. Wir werden unsere gewerkschaftlichen Aktionen fortsetzen. Wir bemühen uns auch um die Unterstützung der Zivilgesellschaft.

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Über den/die Autor:in

Sandra Knopp

arbeitet seit 2013 als freie Journalistin und gestaltet Print- und Radiobeiträge. Sie ist Podcasterin (z.B. dabei sein im Arbeitsleben und Freakcasters) und ihre Schwerpunktthemen sind Inklusion, Arbeitsmarkt und soziale Gerechtigkeit.

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