Wir haben die Geschlechtergerechtigkeit in der Hand

Mehr als hundert Jahre wird die Geschlechtergerechtigkeit in Europa noch dauern. Auf EU-Ebene arbeiten Menschen wie Gleichstellungskommissarin Helena Dalli und Abgeordnete Evelyn Regner fieberhaft daran, diese Zahl zu senken. Auch wir können dazu beitragen.
Drei Generationen werden Frauen in der EU noch warten müssen, bis Männer und Frauen eine echte Gleichstellung erreicht haben. Das sagt der EIGE Gender Equality Index 2021. Österreich findet man darin im schlechten Mittelfeld und gerade mal knapp über dem europäischen Durchschnitt. Vorne dabei ist unsere Heimat allerdings im Gender-Pay-Gap und belegt nach Estland mit 18 Prozent den traurigen zweiten Platz um den größten Gehaltsunterschied innerhalb der Europäischen Union. Auch in Bezug auf Femizide und Gewalt an Frauen hat Österreich eine dramatische Führungsposition. Katharina Mader ist Chefökonomin am Momentum Institut und arbeitet daran, die Gleichstellung zwischen Mann und Frau in Österreich in Zahlen zu gießen. Das macht sie durch die Berechnung von Erwerbs- und Teilzeitquoten. Oder der Frage, wer stärker von Altersarmut betroffen ist. Dem Aufzeigen der Bereiche, wo man Männer seltener findet – und zwar bei der unbezahlten Arbeit. Sie erklärt: „Ich kann Österreich leider nirgends als positiven Vorreiter bezeichnen. Womit wir aber aufwarten können: Wir haben eine Frauenministerin, die sich nicht als Feministin bezeichnet.“ Bis zur Geschlechtergerechtigkeit ist es noch ein weiter Weg.

Geschlechtergerechtigkeit: Die große Wahlentscheidung

Dabei sei Österreich unter Frauenministerin Dohnal eine Weile auf einem guten Weg gewesen, erklärt die Ökonomin. Dohnal schaffte es 1978 mit der großen Familienrechtreform, dass Frauen beispielsweise ohne Zustimmung ihres Ehemannes erwerbstätig sein durften. Das veränderte viel und Katharina Mader weiß: „Auch seit dem EU-Beitritt ist nochmal sehr viel weitergegangen, gerade auch durch die Antidiskriminierungsregelungen. Aber das Problem ist, dass wir einfach in Österreich kaum Gleichstellungspolitik umsetzen. In Kombination mit traditionellen Rollenbildern erschwert das den Fortschritt sehr. Denn nur weil man den Gender-Pay-Gap abschafft, heißt es nicht, dass das Bild der Rabenmutter verschwindet.“ Um diese beiden Punkte in Gang zu setzen, bringt das große Wahljahr 2024 eine Chance.

Portrati von Katharina Mader vom Momentum-Institut im Interview über Geschlechtergerechtigkeit.
Seit dem EU-Beitritt sei bei der Gleichstellung viel weitergegangen, weiß Katharina Mader vom Momentum-Institut. Das Problem: Österreich setzt wenig davon um. | © Markus Zahradnik

Denn in den nächsten Monaten wählen Österreicher:innen das EU-Parlament, den Nationalrat und viele Bundesländer zusätzlich den Gemeinderat oder Landtag. Katharina Mader findet: „Als Frauen sollten wir uns bewusst sein, dass wir 51 Prozent der Bevölkerung ausmachen und mit unserer Wahlentscheidung es in der Hand haben, wie sich Österreich entwickeln wird. Und gerade konservative und rechte Parteien haben ein spezielles Familienbild und legen kaum Wert auf Gleichstellungspolitik.“ Viele dieser Parteien würden daran arbeiten, dass privat bleibe, was im Haushalt passiere. Sei es die Gewalt gegen Frauen, die Kinderbetreuung oder auch die Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit innerhalb der Beziehung.

Große Sprünge

Evelyn Regner ist seit 2009 Abgeordnete des Europaparlaments, seit 2022 eine seiner Vizepräsidentinnen und stellvertretende Delegationsleiterin der Europa-SPÖ. Besonders Gewalt an Frauen ist ihrer Meinung nach keine Privatsache, sondern ein Thema der Europäischen Union und der einzelnen Staaten. Die Gleichstellung und Rechte von Frauen gehören zu ihren Kernthemen, für die sie seit fünfzehn Jahren auf EU-Ebene kämpft. Gerade dort ist viel in Bewegung: „Auf EU-Ebene ist wirklich sehr viel passiert, insbesondere in den letzten Jahren“, so Regner. „Noch nie wurden so viele Gesetze in einer Legislaturperiode verabschiedet, die Frauen zugutekommen wie in dieser. Von einer Quotenregelung für Frauen in Aufsichtsräten, über die Lohntransparenz-Richtlinie, bis hin zu einem EU-weiten Mindestlohn, über Empfehlungen im Pflegebereich oder auch eine Gewaltschutz-Richtlinie. Wir haben viel geschafft.“

Mit Helena Dalli gab es in den vergangenen Jahren erstmalig auf EU-Ebene eine Gleichstellungskommissarin, die gemeinsam mit Evelyn Regner einen zusätzlichen Schwerpunkt auf diese Themen legte. Eine besondere Errungenschaft ist in Regners Augen auch die Ratifizierung der Istanbul-Konvention durch die EU. Diese stellt das bisher einzige internationale Abkommen über den Schutz von Frauen gegen Gewalt dar. Durch die Ratifizierung der EU werden auch die Frauen in Ländern geschützt, die diese nicht umgesetzt haben. EU-Länder, die sich nicht an die Vorschriften halten, können Strafen und Sanktionen erwarten. Ein weiterer Punkt, der das Leben der Frauen nach der bundesstaatlichen Umsetzung in Österreich verändern wird, ist die Lohntransparenz-Richtlinie. Diese soll den Weg zu gerechteren Löhnen für Frauen ebnen.

Die Säumigkeit Österreichs

Doch während die Europäische Union Vorschriften, Richtlinien und Vorschläge festlegen kann, um die Gleichstellung in Österreich voranzubringen, so liege es am Bund, diese umzusetzen. Evelyn Regner weiß leider: „Insbesondere Österreich ist häufig säumig in der Umsetzung von EU-Gesetzgebung und nimmt lieber eine Klage durch die EU-Kommission in Kauf, bevor längst beschlossene Gesetze tatsächlich umgesetzt werden, bei deren Abschluss Österreich selbstverständlich stets mit am Tisch saß.“ Ein Beispiel dafür sind die Barcelona-Ziele aus dem Jahr 2002, nach denen jedes dritte Kind unter drei Jahren in Österreich einen Kinderbetreuungsplatz haben sollte. Im EU-Durchschnitt wurden die Ziele bereits 2022 erreicht und nun erhöht. Österreich kämpft nach wie vor mit den ursprünglichen Zielen aus dem Jahr 2002 und hat die neuen Ziele nun auf 29,1 Prozent Betreuungsplätze runterverhandelt, während die restliche EU 50 Prozent anstrebt.

Evelyn Regner: „Und ich frage mich nur: Warum? Es ist eine staatliche Aufgabe, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, damit Menschen in unserem Land ihrer Arbeit nachgehen können. Und es ist auch im Interesse des Staates, dass die Bevölkerung unseres Landes nicht schrumpft. Warum ergreift die Regierung dann widersprüchliche Maßnahmen?“ Ein weiteres Beispiel sei die Vereinbarkeitsrichtlinie, die 2019 in Kraft trat, die den Rechtsanspruch auf zehn bezahlte Urlaubstage für junge Väter nach der Geburt beinhaltet sowie einen eigenen Karenz-Anspruch für junge Väter. Auch hier war Österreich in der Umsetzung der Richtlinie stark verspätet und hat nur wenig ambitioniert umgesetzt.

Noch nie wurden so viele
Gesetze in einer Legislaturperiode
verabschiedet, die Frauen
zugutekommen wie in dieser.
Wir haben viel geschafft. 

Evelyn Regner,
Vizepräsidentin des EU-Parlaments

Andere Länder haben bei der Geschlechtergerechtigkeit ähnliche Probleme

Beate Gassner ist politische Referentin des Österreichischen Gewerkschaftsbundes und verfolgt seit 2020 in Brüssel EU-Gesetzgebungsprozesse im Bereich der Geschlechtergleichstellung. Sie weiß, dass viele Länder ähnliche Probleme mit patriarchalen Strukturen haben: die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit, Gewalt- und Belästigungserfahrungen im sozialen Nahbereich, am Arbeitsplatz und auch im öffentlichen Raum, ungleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit, intersektionale Diskriminierungserfahrungen aufgrund des Geschlechts, sexueller Orientierung, Ethnie, Behinderung, Alter. Sie erklärt: „Dies alles sind Herausforderungen, die wir in unterschiedlichem Ausmaß europaweit sehen. Manche Regierungen nehmen sich der Bekämpfung dieser mehr an als andere.“

Portrait von Beate Gassner vom ÖGB-Europabüro in Brüssel im Interview über Geschlechtergerechtigkeit.
Letztlich liege es an uns, ein soziales Europa zu wählen, das sich für Geschlechter-
gerechtigkeit einsetzt, meint Beate Gassner vom ÖGB-Europabüro in Brüssel. | © Markus Zahradnik

Beispielsweise fordern der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) die Ratifizierung und Umsetzung der ILO-Konvention zur Beseitigung von Gewalt und sexueller Belästigung in der Arbeitswelt in allen EU-Mitgliedsstaaten. Weltweit haben bereits 39 Länder diese ratifiziert, Österreich befindet sich noch nicht unter diesen. Gassner weiß, wie schwer es sein kann, wenn gerade in Bezug auf Gleichstellungspolitik die nationalen Regierungen sich in Brüssel querstellen.

Es liegt auch an den Wähler:innen

Sie hat dies beim Richtlinienvorschlag gegen Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt miterlebt: „Leider haben einige Mitgliedsstaaten sich hier massiv für Verschlechterungen ein- und schlussendlich auch durchgesetzt. In der Kompromisseinigung zwischen Rat, Europäischem Parlament und der Europäischen Kommission findet sich nun kein Artikel mehr zur Vergewaltigung, wie ursprünglich von Kommission und Parlament vorgesehen. Auch sind keine – dringend notwendigen – Verbesserungen bei Gewalt und Belästigung auf dem Arbeitsplatz enthalten.“ Gerade die Europäischen Wahlen am 9. Juni, bei denen ein Rechtsruck erwartet wird, werden diesbezüglich entscheidende Folgen nach sich ziehen. Der EGB hat daher die Kampagne „Vote for progress, not for backlash“ gestartet. Beate Gassner weiß: „Es liegt an uns Wähler:innen, Fortschritt und ein soziales Europa, welches Geschlechtergerechtigkeit als wichtigen Wert sieht, zu wählen. Wir haben es in der Hand.“

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Über den/die Autor:in

Sandra Gloning

Sandra Gloning ist freie Online- und Print-Journalistin in Wien mit einem breiten Themenfeld rund um Frauen, Lifestyle und Minderheiten und dem Ziel, Geschichten aus dem echten Leben zu erzählen.

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