Sicherheitsnetz mit Tradition – die Geschichte der Sozialversicherungen

Iluustration
Das Prinzip der Sozialversicherung: Die heute Aktiven leisten die Beiträge für die heute Anspruchsberechtigten.
Illustration (C) Natalia Nowakowska
Die Geschichte der österreichischen Sozialversicherungen hat eine lange Tradition. Mit Wurzeln, die bis ins Mittelalter zurückreichen, entwickelte sie sich über Jahrhunderte hinweg zu der solidarischen Pflichtversicherung, die sie heute ist. Ein Überblick von der Bruderlade bis hin zu den Sozialversicherungsträgern der Gegenwart.

Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung sind für uns in Österreich zu selbstverständlichen Eckpfeilern der Sozialversicherung geworden. Die solidarische Pflichtversicherung stellt heute ein wesentliches Element des Wohlfahrtsstaates dar. Doch das war nicht immer so. Die Wurzeln ragen bis ins Mittelalter zurück – wagen wir also einen Blick in die Vergangenheit zu den Anfängen und sehen dabei zu, wie sich das System der Sozialversicherung über die Jahrhunderte hinweg langsam entwickelt hat.

Das Mittelalter: Armenfürsorge, Zünfte und Bruderladen

Wir befinden uns in der Epoche, in der die Völkerwanderung verebbt und Platz für politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandel macht. Es ist die Zeit des Rittertums und des Minnesangs, des Investiturstreits und der Kreuzzüge. Als wir noch Teil des Heiligen Römischen Reiches sind, Habsburger die Babenberger ablösen, aber noch vor der Entdeckung Amerikas. Der Adel feiert rauschende Feste während der Großteil der Bevölkerung ums Überleben kämpft. Es ist verheerend, krank zu werden und dadurch nicht mehr für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu können.

Und genau zu dieser Zeit entsteht die Armenfürsorge. Kirchliche Einrichtungen wie Orden und Klöster übernehmen auf Basis des Gebotes der christlichen Nächstenliebe die Krankenpflege. Heute würde man dazu vermutlich Charity sagen. In Wien etabliert sich ein Bürgerspital, im ländlichen Raum übernehmen Armenärzte unentgeltlich die gesundheitliche Versorgung derer, die sie sich nicht leisten können.

Mit dem Aufkommen des Handwerks entstehen zudem Zünfte als soziale und ökonomische Netzwerke. Diese Vereinigungen von Handwerkern eines bestimmten Gewerbes sind geschlossene Gruppen, die im Krankheitsfall für die Betroffenen bzw. auch im Sterbefall für die Hinterbliebenen Fürsorge- und Vorsorgemaßnahmen treffen.

Foto von einer Zunfttruhe aus dem Mittelalter
Im Mittelalter sorgen Zunfttruhen für Absicherung im Krankheits- oder Todesfall. Foto (C) Bildarchiv Hansmann/Interfoto/picturedesk.com

Um die besonders hohe Unfallgefahr und häufig auftretende Berufskrankheiten von Handwerkern und Bergarbeitern abzusichern, werden ebenfalls im Mittelalter die sogenannten Bruderladen und Knappschaftskassen ins Leben gerufen. Der Beitritt erfolgt solidarisch, um „Unterstützung im Fall eines Unfalls, einer Krankheit, Invalidität oder Tod eines Bergmannes“ zu bieten, so Günther Steiner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und Autor des Buches Ein verlässlicher Partner für’s Leben – Soziale Sicherheit von der industriellen Revolution bis ins digitale Zeitalter. Im Zuge des Bruderladens leisten die Arbeiter Beiträge, die sie vom Lohn zusammensparen, und die dann den hilfsbedürftigen Bergbauern bzw. ihren Angehörigen zugutekommen.

Die Neuzeit: Die ersten Gesetze manifestieren sich

Mit Persönlichkeiten wie Christoph Columbus, Martin Luther und Johannes Gutenberg neigt sich das Mittelalter dem Ende zu und macht Platz für eine neue Epoche: die Neuzeit. Das geozentrische Weltbild wird durch das heliozentrische ersetzt, Reformation und Gegenreformation dominieren den kirchlichen Alltag und die Pest wütet im Land. Die Abhängigkeit zwischen Herr und Knecht der Grundherrschaft wird langsam von dörflichen Gemeinden abgelöst, in denen Familien und Haushalte ihre Angelegenheiten weitgehend selbstständig regeln können.

Genau in diese Zeit lassen sich auch die Anfänge der gesetzlichen Sozialversicherung datieren. So führt Maria Theresia 1749 ein generelles Invalidensystem ein, staatlich organisiert, um alle, die sich im Kriegsdienst verdient gemacht haben, zu versorgen. Im selben Jahr entsteht zudem auch ein Pensionsfonds für Offiziere und ihre Hinterbliebenen. Ihr Sohn Kaiser Joseph II erweitert durch die Pensionsnormale die von seiner Mutter eingeführte staatliche Invalidenpension und führt zudem 1749/1750 das Recht auf Versorgung für Beamte im Fall von Krankheit, altersbedingter Arbeitsunfähigkeit ein.

Foto vom Berggesetz 1854Das Berggesetz 1854 verpflichtet Bergwerksbesitzer erstmalig zur Einführung von Bruderladen.

Jedoch wird erst das Allgemeine Berggesetz von 1854 als eigentlicher Beginn der gesetzlichen Sozialversicherung gesehen. Damit gibt es vom Gesetz vorgeschrieben die Pflicht für Bergwerksbesitzer, eine Bruderlade oder Knappschaftskasse zu errichten, und für Bergarbeiter, dieser beizutreten. 1859 löst die Gewerbeordnung die alten Zunftordnungen ab – mit dem Ziel, „an Stelle der unzureichenden Armenunterstützung und der ziemlich primitiven Versorgung durch die Zünfte rechtliche Ansprüche und Einrichtungen auf versicherungstechnischer Basis zu setzen“, so Stefan Wedrak in seinem Buch Die allgemeine Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse in Wien 1868-1880. Die zwei stattgefundenen Novellen 1883 und 1885 gelten dem Ausbau der genossenschaftlichen Krankenkassen sowie der Ausweitung des Gesetzes auf Gesellen.

Mit dem Vereinsgesetz 1867 wird erstmals auch den aus Selbsthilfe entstandenen Unterstützungskassen der (Fabriks-)Arbeiter eine rechtliche Basis geboten. 1887/88 folgen das Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz und 1892 das Hilfskassengesetz.

Die Moderne: Erhöhung des Versichertenkreises und Ausbau des Leistungsspektrums

Das 20. Jahrhundert beginnt turbulent. Die Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo löst den Ersten Weltkrieg aus. Wenige Jahre später wird das Ende der Donaumonarchie eingeläutet: Österreich wird zur Republik. Die Ereignisse überschlagen sich durch den Austrofaschismus, den Anschluss an das Deutsche Reich und schließlich den Zweiten Weltkrieg. Aufatmen, das geht erst wieder bei den Worten „Österreich ist frei“, die 1955 von Leopold Figl vom Balkon des Schlosses Belvedere verkündet werden.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Ferdinand Hanusch eine wichtige Schlüsselfigur für die Einführung zentraler Gesetze des österreichischen Wohlfahrtsstaates.
Foto (C) Bildarchiv des ÖGB

Auch die Geschichte der Sozialversicherung leidet zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den politischen Entwicklungen. Zwar gibt es Entwürfe zur Einführung einer obligatorischen Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter, doch bei der Umsetzung kommt der Erste Weltkrieg dazwischen. Nach dessen Ende wird am 1. Jänner 1918 das Ministerium für soziale Fürsorge gegründet, 1919 kommt es im Zuge des Kassenkonzentrationsgesetzes zu einer Zusammenführung der bis dahin existierenden 406 verschiedenen Krankenkassen auf eine zweistellige Zahl und 1920 ersetzt das Arbeitslosenversicherungsgesetz die Arbeitslosenfürsorge. Zu einem Bruch in der Reihe der Verbesserungen der Sozialversicherung kommt es 1934 mit der Etablierung des Austrofaschismus. 1945 bestrebt man nach Ende des Zweiten Weltkriegs daher, den Zustand der Sozialversicherung vor 1934 wiederherzustellen.

Foto vom AngestelltenversicherungsgesetzAngestelltenversicherungsgesetz BGBl. 388/1926

Seither wird die Sozialversicherung durch zwei Bestreben dominiert: den Kreis der Versicherten laufend zu erhöhen und das Leistungsspektrum auszubauen. 1949 entsteht der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger als Dachorganisation über den Versicherungsträgern. 1955 tritt das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) in Kraft, das bisher an die hundert Mal novelliert wurde, aber nach wie vor gültig ist. Nach und nach werden auch Selbstständige in die Pensions- und Krankenversicherung eingegliedert: 1965 die Bauern, 1966 die Gewerbetreibenden. 1967 folgen die Beamten.

Zu den jüngeren Änderungen zählt beispielsweise die Einführung der Sozialversicherungsnummer 1972. Wenig später kommen die Gesundenuntersuchung sowie der Mutter-Kind-Pass hinzu. Seither hat sich jedoch die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung geändert. Zahlreiche Pensionsreformen und die Einführung privater Krankenkassen sind die Folgen.

Unsere Zeitreise endet mit der E-Card, die 2004 den Krankenschein ablöst, dem Aufkommen der Elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) 2013 und der heuer aktuellen Debatte über die Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger zur Österreichischen Gesundheitskasse. In welche Richtung sich die Sozialversicherung künftig entwickelt, das steht jedoch noch in den Sternen.

Über den/die Autor:in

Beatrix Ferriman

Beatrix Ferriman hat internationale Betriebswirtschaft an der WU Wien, in Thailand, Montenegro und Frankreich studiert. Sie ist Autorin, Schreibcoach sowie freie Redakteurin für diverse Magazine und Blogs.

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