Österreich fehlt eine Gesamtstrategie zur Dekarbonisierung der Industrie

Porträt Michael Soder. Er spricht über die Dekarbonisierung der Industrie.
Michael Soder fordert von der Regierung eine Gesamtstrategie. | © Markus Zahradnik
Während andere Länder längst Fahrpläne zur Dekarbonisierung ihrer Industrie entwickelt haben, setzt die österreichische Regierung auf Gießkanne und Symbolpolitik, kritisiert AK-Ökonom Michael Soder im A&W-Interview.
Die Zeit drängt: Während verschiedene Staaten sich um die Dekarbonisierung bemühen, verharrt Österreich im Stillstand. Für den Ökonomen Michael Soder ist das ein Problem. Nur durch ganzheitliche wirtschaftspolitische Strategien wird die österreichische Industrie mithalten können, erklärt er im Interview.

Zur Person
Michael Soder arbeitet als Ökonom in der Abteilung Wirtschaftspolitik der Arbeiterkammer Wien zu den Themen grüner Strukturwandel, grüne Industriepolitik, Just Transition sowie Forschung, Technologie und Innovation.

Arbeit&Wirtschaft: In einem Kommentar in der Presse kritisierten Sie unlängst, Österreich habe in der Frage der Dekarbonisierung der Industrie keine Strategie. Woran machen Sie das fest?

Michael Soder: Wir sehen international, dass sich in Fragen einer aktiven Industriepolitik, der Technologieentwicklungen und Dekarbonisierung sehr viel tut. China prescht in wesentlichen grünen Technologien vor, auch die USA wollen ihre Technologieführerschaft weiter ausbauen. Geopolitisch ist dadurch eine enorme Dynamik entstanden. Die EU zieht jetzt nach und will u.a. mit dem „Net-Zero Industry Act“ ein Gegengewicht bilden. Das Ziel ist, die Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Europa zu halten und strategische Unabhängigkeit zu bewahren.

Österreich reagiert bisher kaum auf diese Entwicklungen. Es gab vor ein paar Jahren die Initiative zur österreichischen Standortstrategie „Chancenreich Österreich“ von Bundesministerin Margarete Schramböck (ÖVP), die letztlich kläglich gescheitert ist. Derzeit vergibt die Regierung Fördergelder, setzt einzelne programmatische Schwerpunkte und macht mit einem „Auto-Gipfel“ und E-Fuels Symbolpolitik, aber es fehlt eine ganzheitliche wirtschaftspolitische Strategie, wie die Industrie mit diesen Herausforderungen umgehen soll. Eine solche bräuchte es, um den Wirtschaftsstandort Österreich weiterzuentwickeln und um im Bereich neuer Technologien Wertschöpfung und Beschäftigung zu sichern.

Wenn wir von Industrie reden, welche Berufe sind konkret gemeint?

Man spricht allgemein vom produzierenden Bereich und der ist sehr vielfältig. Dazu zählen der Maschinen- und Anlagenbau, der Automobilsektor, die Elektroindustrie, die Stahlproduktion und die Chemiebranche. Eigentlich kann man nicht von „der“ Industrie sprechen, sondern von unterschiedlichen „industriellen Ökosystemen“, die mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert sind.

Michael Soder: „Die Unsicherheit ist größer, als sie sein müsste.“ | © Markus Zahradnik

Was für Auswirkungen hat diese fehlende Gesamtstrategie auf diese Ökosysteme?

Der derzeit stattfindende Umbruch bringt viele Unsicherheiten mit sich und die Politik stapelt weiter Unsicherheit auf Unsicherheit. Es bräuchte aber klare wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, beispielsweise ein Klimaschutzgesetz und mehr Mitbestimmung der Beschäftigten im Umbau. Nur Fördergelder ausschütten reicht nicht, um den Umbau zur digitalen und klimaneutralen Wirtschaft zu bewerkstelligen. Es braucht neben immensen Investitionen, die Unternehmen jetzt tätigen müssen, einen klaren Rahmen und vorgezeichnete Entwicklungsrichtungen. Das gilt auch für die Beschäftigten, die wissen müssen, wohin sie sich qualifizieren sollen. Die Unsicherheit ist größer, als sie sein müsste.

Im Zuge der Klima- und Transformationsoffensive will der Bund die Industrie bis 2030 mit ca. 5,7 Milliarden Euro fördern …

Erstens, es braucht eine Strategie, wohin sich die Industrie entwickeln soll und ich kann nicht einfach Geld hineinschütten und schauen, was passiert. Die Gießkanne ist hier fehl am Platz. Zweitens, wenn man öffentliche Förderungen bekommt, muss das mit einer gewissen Verpflichtung einhergehen. Das ist ja schließlich keine Einbahnstraße. Die Vergabe der enormen Subventionen der Steuerzahler:innen an die Wirtschaft muss an klare Bedingungen geknüpft sein, beispielsweise an Standort- und Beschäftigungsgarantien, Vorgaben gegen Sozial- und Lohndumping, zu Lieferkettenverantwortung, etc.

Der Staat hat sich in der Vergangenheit vor allem dadurch hervorgetan, Kapitalinteressen abzusichern. Wieso soll der Staat derjenige sein, der die sozialökologische Transformation vorantreibt?

Diese Transformation ist alternativlos. Wir sind mitten in der Klimakrise, wir sehen es tagtäglich in den Medien, und es wird schlimmer werden. Um die Lebensumstände, so wie wir sie derzeit kennen, zu bewahren, braucht es einen radikalen Wandel. Dieser Wandel kommt so oder so – entweder wir gestalten ihn aktiv mit oder wir schlittern ins Chaos. Selbst aus rein ökonomischen Gesichtspunkten sollte der Staat ein Interesse an dieser Transformation haben. Sich auf nachhaltige Branchen zu fokussieren, ist ein Garant für Wertschöpfung und Beschäftigung. Das ist kein Widerspruch, sondern unsere Chance für wirtschaftlichen und materiellen Wohlstand. Aber hierfür braucht es auch den Druck aus der Zivilgesellschaft.

Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in diesem Prozess?

Die Gewerkschaften sind in solchen Prozessen immer als zentraler Akteur beteiligt gewesen. Die Gewerkschaftsbewegung hat sich in einer großen Umbruchphase gegründet, inmitten der industriellen Revolution. Die Frage ist: Können wir es schaffen, politische Perspektiven aufzuzeigen, eine Vision, wohin die Reise gehen kann, und wie organisieren wir den Weg dorthin? Ich glaube, da gibt es auf der betrieblichen Ebene und auf gewerkschaftlicher Seite gute Ansätze. Das Thema „Just Transition“, die Gestaltung des gerechten Übergangs, wird hier eine große Rolle spielen. Es ist viel in Bewegung gekommen und es tut sich viel.

Die Kollektivvertragsverhandlungen der Metaller sind bereits losgegangen. Mit dem bisher Gesagten: Welche Strategien lassen sich für die Verhandlungen daraus ableiten?

Ich will den Kolleg:innen jetzt nicht ausrichten, was sie in den Kollektivvertragsverhandlungen zu tun haben. Das wissen sie selbst am besten und viel mehr als ich. Zum Thema Just Transition und der Gestaltung des Strukturwandels gibt es eine sehr gute Beschlusslage, ein tragfähiges „Just Transition“-Positionspapier und vieles mehr. Das sind sehr gute Ausgangspunkte für alle weiteren Überlegungen, wie wir den Wandel aktiv gestalten können. Im Prozess des Wandels wird es für uns aber wesentlich sein, Wertschöpfung und Beschäftigung in einer grünen, dekarbonisierten und klimaneutralen Wirtschaft abzusichern und das Leben der Beschäftigten weiter zu verbessern. Eine konkrete Forderung ist zum Beispiel, dass man bei der Vergabe von Fördergeldern die betrieblichen Mitbestimmungsmöglichkeiten stärkt und die Betriebsrät:innen in den Prozess der Transformation miteinbindet. Auch Arbeitszeitverkürzung kann eines dieser Instrumente sein, aber es gibt für eine Herausforderung dieser Dimension keine „Silver Bullet“-Lösungen. Dafür sind die Anforderungen in den regionalen Kontexten und den einzelnen Branchen zu unterschiedlich. Da wissen die Gewerkschaften oder die Betriebsrät:innen am besten, was es in den Betrieben konkret braucht.

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Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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