Geld kann man nicht essen

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Der InvestorInnen-Appetit auf Rendite und die Marktlogik des globalen Ernährungssystems lassen Menschen in armen Ländern hungern.
Ohne Nahrung kein Leben. An Rohstoffbörsen werden Lebensmittel gehandelt wie jedes andere Gut. Sie sind von Natur aus begrenzt und risikoanfällig: durch begrenzt verfügbare Ackerflächen, kurze Haltbarkeit, beschränkte Lagerfähigkeit und Naturkatastrophen. Angesichts von klima- und schädlingsbedingten Ernteausfällen kam Friedrich Wilhelm Raiffeisen im 19. Jahrhundert auf die Idee, eine Genossenschaft zu gründen. Ein ähnliches Motiv steckt hinter dem nahezu frivol erscheinenden Phänomen, dass Rohstoffe, die Menschen zum Leben brauchen, an der Börse gehandelt werden, auch wenn dies in der Realität nicht wie in einem Geschäft vonstattengeht. Vielmehr steckt dahinter ein komplexes System.

Kein physisches Kaufinteresse

Die ursprüngliche Idee ging ebenso von einem Ausgleichsgeschäft aus. Warenterminbörsen sollten Risiken und Preisverfall absichern. Was den Zustrom des Finanzkapitals in diese Warenterminmärkte so gefährlich macht, ist, dass es kein physisches Kaufinteresse gibt. Die kurzfristige Spekulation auf steigende Preise dient ausschließlich dem Ziel, Gewinne zu machen, und sorgt so für Preisverzerrungen. Zusätzlich verstärkt wird dies durch den algorithmischen Handel, der automatisiert über Computer abläuft.

Seit der Jahrtausendwende wurden traditionelle Spekulationsbeschränkungen auf Rohstoffmärkten kontinuierlich abgebaut, die Märkte wurden für Derivat-basierte Spekulation geöffnet.

„Bis Ende der 1990er-Jahre sicherten Futures zum größten Teil noch materielle Warenverträge ab, heute liegt der Anteil bei der Hälfte oder darunter“, beschreibt Bernhard Tröster, Volkswirt bei der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE), die veränderte Situation. „Die Öffnung bewirkte eine drastische Erhöhung des Volumens spekulativ eingesetzten Kapitals. Aus mehreren Gründen: Das Platzen der Dotcom-Internetblase reduzierte die Gewinnaussichten bei Aktienmärkten, das Zinsniveau war niedrig und der wirtschaftliche Aufstieg Chinas, getrieben von großem Rohstoffhunger, machte diese Märkte besonders attraktiv“. Illustriert am Beispiel von Weizen-Futures der Börse in Chicago: Diese verfünffachten ihr Handelsvolumen im Zeitraum von 1998 bis heute.

Im Gegenzug sank der Anteil kommerzieller Agrarhändler von 50 bis 60 auf 30 Prozent. Von dieser Machtverschiebung profitieren Finanzinvestoren, aber auch internationale Agrarhändler und multinationale Nahrungsmittelkonzerne.

Insiderwissen

Die größten Händler von Agrarrohstoffen heißen ADM Bunge & Cargill und Dreyfus, zusammengefasst und abgekürzt als „ABCD“. Laut „Konzernatlas 2017“ verfügen sie insgesamt über einen Weltmarktanteil von 70 Prozent. Sie handeln aber nicht nur mit Agrarstoffen, sondern transportieren und verarbeiten Lebensmittel weiter, besitzen Silos, Ölraffinerien und Hochseeschiffe. Diese Position bringt einen Informationsvorsprung über Ernten, Preise, Wetterlagen und politische Entwicklungen in allen Teilen der Welt. Aufgrund ihres Insiderwissens verfügen sie über eine starke Verhandlungsposition in Preisverhandlungen. Noch nützlicher ist es für die Tätigkeit als Finanzinstitut. Als Investmentgesellschaften verwalten sie Hunderte agrarbasierte Fonds und verfügen so über ein milliardenschweres Investitionskapital. Je nach Marktlage und Geschäftsinteresse wird eine Ernte eingelagert oder verkauft, deshalb spricht man von „Zweiter Ernte“.

Preistreiber Spekulation

Seit über zehn Jahren wird die Frage kontroversiell diskutiert, ob Spekulation Getreide teuer macht. Auf der einen Seite stehen entwicklungs- und globalisierungskritische NGOs und die internationale Gewerkschaftsbewegung, auf der anderen Seite wirtschaftsliberale Thinktanks und Banken (in Europa mit der Deutschen Bank in führender Rolle), dazwischen steht die Wissenschaft. Im Landwirtschaftsbericht der Welternährungsorganisation aus dem Jahr 2011 stellte ein Großteil der ForscherInnen fest, dass ein hohes Maß an Spekulation an den Terminmärkten die Preise erhöhen kann.

Unbestritten ist, dass seit 2006 die Preisschwankungen (Volatilität) bei Lebensmitteln außergewöhnlich hoch sind. Uneinig ist man, ob und in welchem Ausmaß Spekulation überhaupt zu steigenden Agrarpreisen beiträgt. An der Börse selbst gibt man eine klare Antwort: In einer Umfrage der NGO Foodwatch bestätigen dies 89 Prozent der 180 befragten RohstoffhändlerInnen, AnalystInnen und BrokerInnen.

Insbesondere Finanzspekulation mit Derivaten steht in dem Ruf, Hungerkrisen zu verursachen. Vor allem der algorithmische Börsenhandel gilt als Mitverursacher großer Hungerkrisen in den Jahren 2008 und 2011. Doch was ist überhaupt Spekulation? Darunter versteht man die kurzfristige Investition von Kapital in das Steigen bzw. Fallen von Kursen bzw. Termingeschäfte, um mit diesen Preisschwankungen Gewinne zu erzielen. Die Spekulation mit Lebensmitteln erklärt sich auch aus der beständigen Suche der Investoren nach attraktiven Investments.

Markt liquide halten

Die Investmentbank Barclays Capital erhob, dass die Finanzinvestitionen in Lebensmittel und Rohstoffe zwischen 2003 und 2012 von 15 auf 450 Milliarden Dollar angestiegen sind. So risikoreich spekulative Kapitalinvestitionen in Rohstoffe auch sind: Sie gelten als Instrument, um den Markt liquide zu halten und ausgleichend zu wirken. Indexfonds (eine Form von Investmentfonds) werden gerade für KleinanlegerInnen als sichere Geldanlage gewertet.

Diese Fonds verkaufen auslaufende Verträge beispielsweise über den Kauf von Weizen zu einem in naher Zukunft liegenden Zeitpunkt, stattdessen kaufen sie das Recht, Weizen in drei Monaten zu bekommen. In Börsendeutsch heißt das „rollen“ der Verträge. Diese Finanzprodukte tragen wesentlich zu Preisschwankungen bei und verstärken so Grundprobleme unseres globalen Ernährungssystems.

Direkte Einkommenseinbußen

Preisschwankungen betreffen Menschen in Ländern des globalen Südens wesentlich stärker als in den Industrieländern. Zunächst leben dort mehr Menschen von der Landwirtschaft, Preisverluste bringen damit oft direkte Einkommenseinbußen. Wer bis zu 80 Prozent des Einkommens für Lebensmittel ausgibt, für den/die haben bereits geringfügige Preisschwankungen existenzielle Folgen. Einrichtungen wie die Wiener Tafel sind für viele die letzte Rettung. Ein weiterer Preistreiber liegt in einem Ansatz westlicher Klimapolitik: Viele Jahre galten Agrotreibstoffe (Ethanol, Biodiesel) aus Raps, Palmöl und Soja als perfekte Alternative, um den CO2-Ausstoß und die Erdölabhängigkeit zu reduzieren.

Die große Nachfrage nach essbaren Treibstoffen zerstört nicht nur den Regenwald, sie treibt zugleich die Agrarpreise in die Höhe. Zur Veranschaulichung: Allein für die Beimengung von Biotreibstoff für den Benzinbedarf in Österreich müsste ein Drittel der gesamten Ackerfläche eingesetzt werden. „Nahrungsmittel raus dem Tank“ lautet daher die prägnante Forderung von Gerhard Riess, Sekretär der Gewerkschaft PRO-GE.

Eine entsprechende Kampagne von NGOs und Gewerkschaften hat zum Umdenken beigetragen: Im Oktober einigte man sich im EU-Agrarausschuss auf die Revision der Richtlinie zu erneuerbaren Energien. Demnach soll der Anteil an Biokraftstoffen bis 2030 auf zwölf Prozent sinken. Künftige Biokraftstoffe sollen aus Abfall, Stroh und Reststoffen produziert werden.

Auch die neue EU-Finanzmarktrichtlinie soll Beschränkungen bei der Spekulation auf Nahrungsmittel vorsehen. Die Entwicklungsorganisation Oxfam kritisierte den ersten Entwurf allerdings als „Wunschzettel der Finanzbranche, der zu massiven Marktverzerrungen und gravierenden Preissprüngen“ führen könne.

Bohren harter Bretter

Das Zurückdrängen des hochspekulativen Kapitals aus den Agrarmärkten fordert eine Politik des „Bohrens harter Bretter“. Aber auch der/die Einzelne kann etwas tun: „Wer bei der betrieblichen Pensionsvorsorge oder privaten Investments darauf achtet, dass dabei keine spekulativen Veranlagungen in Lebensmittel oder andere Rohstoffe getätigt werden, leistet so einen Beitrag, die Finanzialisierung der Nahrungsmittelmärkte einzudämmen“, so Bernhard Tröster von der ÖFSE.

Materialien zu Wirtschaft&Gesellschaft – „Finanzmärkte und Rohstoffpreise“ :
tinyurl.com/ycwytqzh

Von
Beatrix Beneder
Freie Journalistin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/17.

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