Erkleckliche Anzahl
Im Jahr 2017 riss Historikerin Brigitte Pellar das Thema in einem Beitrag mit dem Titel „Organisatoren, Kommunikatoren, Kämpfer – Juden als Funktionsträger der Freien Gewerkschaften“ grob an. Der Beitrag war Teil einer Festschrift des DÖW. Pellar spürte dafür bereits eine erkleckliche Anzahl von Gewerkschaftern jüdischer Herkunft auf – Frau befindet sich keine darunter, was nicht bedeutet, dass es keine gab. Hier bedarf es ebenso wie zu dem gesamten Thema noch eingehender wissenschaftlicher Recherchen.
Bereits Pellars Beitrag konterkariert allerdings die Darstellung, wonach Juden und Jüdinnen in der Arbeiter- beziehungsweise Gewerkschaftsbewegung keine Rolle gespielt hätten. So heißt es etwa in der Victor-Adler-Biographie von Max Ermers aus dem Jahr 1932: „Die österreichische Arbeiterbewegung war sonderbarer Weise bis zur Zeit Victor Adlers fast ganz judenfrei.“ Diese These war auch noch in den Jahrzehnten nach 1945 lange verbreitet. Noch im Jahr 1982 habe sie der Publizist Leopold Spira in seiner Arbeit „Feindbild ‚Jud‘“ übernommen, in der er „100 Jahre politischen Antisemitismus in Österreich“ thematisierte. Neben der Frage nach Selbst- und Fremdzuschreibung spielt noch ein weiteres Missverständnis, um nicht zu sagen Vorurteil, eine Rolle. Denn im Rückblick werden Juden und Jüdinnen meist als Selbstständige und nicht in erster Linie als ArbeiterInnen gesehen. Auch dieses Bild bedarf einer Korrektur.
Vorurteile
Historikerin Pellar etwa verweist auf einen Vergleich der Berufsstrukturen der jüdischen und nichtjüdischen Erwerbstätigen Wiens im Jahr 1910. Tatsächlich sei der Anteil der Selbstständigen in der jüdischen Bevölkerung höher gewesen. „Aber immerhin sind doch fast 62 Prozent Unselbstständige unter den Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk ausgewiesen“. Und in der Leopoldstadt, dem Bezirk mit dem höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung, seien um 1900 ein Fünftel bis ein Viertel der Menschen ArbeiterInnen gewesen.
Und daher gab es sie auch, die jüdischen ArbeiterInnenvertreter. Die Suche nach ihnen gestaltet sich allerdings wie eine Schnitzeljagd. Die jüdische Herkunft bleibt oftmals unerwähnt, erst bei Konsultation verschiedener Quellen kommt man ihr auf die Spur. Julius Weiss (1880–1939) beispielsweise war ab 1918 Obmann der Gewerkschaft der Chemiearbeiter. Nach 1934 betätigte er sich illegal in der Gewerkschaftsbewegung. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde er nach Buchenwald deportiert, wo er ermordet wurde. In der Metallergewerkschaft finden sich gleich zwei bedeutende Männer, die jüdischer Herkunft waren. Einer von ihnen war Paul Johannes Schlesinger (1874–1945).
Gedenktafel ohne Glauben
Auch er wurde schließlich von den Nazis ermordet. Nach Wanderjahren als Geselle in mehreren europäischen Ländern kam der Feinmetaller im Jahr 1905 nach Wien zurück und wurde hier zum Sekretär des Österreichischen Metallarbeiterverbandes gewählt. Später wurde er Bezirksvertrauensobmann für die Metallarbeiter der Bezirke Mödling, Baden und Wiener Neustadt. In Wiener Neustadt ist ihm denn auch der Paul-Johannes-Schlesinger-Hof gewidmet, in dem er jahrelang wohnte. Das Erstaunliche: Auf einer Gedenktafel am Gemeindebau bleibt seine jüdische Herkunft unerwähnt. Auch auf der Parlamentshomepage – er war Nationalratsabgeordneter – fehlt diese Information bis heute. In Wiener Neustadt wurde dem von den Nazis Ermordeten allerdings ein Stolperstein gewidmet. Auf der historischen Seite zur jüdischen Gemeinde Wiener Neustadt wird als Begründung für dieses Denkmal „jüdischer Bürger“ angegeben.
Einer der Gründer der Metallarbeitergewerkschaft war der Schlosser Heinrich Beer, dem es am Ende nichts nutzen sollte, dem Judentum den Rücken gekehrt zu haben. Er wurde in Theresienstadt ermordet. Er war zuvor Präsident der Metallarbeitergewerkschaft gewesen und – wie Schlesinger – sozialdemokratischer Politiker: Er gehörte dem Reichsrat als Abgeordneter an.