Mehr als Unterricht: Was Ganztagsschulen wirklich leisten

Eine Lehrerin erledigt mit Schüler:innen eine Übung. Symbolbild für Ganztagsschulen.
Bildung für alle: Ganztagsschulen haben das Potenzial, Bildungsgerechtigkeit zu fördern. | © Adobe Stock/BalanceFormCreative
Ganztagsschulen ermöglichen faire Bildungschancen für alle Kinder, indem sie mehr Zeit fürs Lernen und die individuelle Förderung schaffen. Doch es hapert an der Umsetzung. Wir werfen einen Blick auf Bildungs(un)gerechtigkeit und in die Klassenzimmer.
Es ist Montagmorgen, kurz nach sieben. Die Türen der Ganztagsvolksschule Vereinsgasse in der Wiener Leopoldstadt werden geöffnet, und die ersten Kinder trudeln ein. Für Schulleiterin Gabi Lener beginnt der Tag mit eingehenden Krankmeldungen des Personals. An ihrer Schule arbeiten Lehrer:innen und Freizeitpädagog:innen sowie Küchen- und Reinigungspersonal. Sie alle sind bei verschiedenen Dienstgebern und nach unterschiedlichem Dienstrecht angestellt. Für Lener bedeutet das, dass die Erstellung des Stundenplans mit Herausforderungen einhergeht. „Für Lehrer:innen dauert eine Unterrichtseinheit 50 Minuten und für Freizeitpädagog:innen 60 Minuten. Während das Lehrpersonal zwischen den Einheiten Pausen haben darf, muss bei den Pädagog:innen die Arbeitszeit am Stück sein.“ Abgesehen von diesen logistischen Herausforderungen bietet das Ganztagsschulkonzept aber viele Vorteile in der Betreuung und Versorgung der Schüler:innen.

Gabi Lener, Schulleiterin einer Ganztagsvolksschule im Interview über das Ganztagsschulkonzept.
Die Gestaltung der Freizeit spielt eine große Rolle für den Bildungserfolg von Kindern. „Die gelernten Fertigkeiten fördern das schulische Lernen“, sagt Gabi Lener, Schulleiterin einer Ganztagsvolksschule. | © Christopher Glanzl

In diesen ganztägigen Schulen werden neben dem regulären Unterricht ein gemeinsames Mittagessen, betreute Lernzeiten und Freizeitaktivitäten angeboten. Dadurch versprechen sie nicht nur eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch ein Potenzial für mehr Bildungsgerechtigkeit. Der Zugang zu Essen ist für die Entwicklung von Kindern dabei ebenso wichtig wie guter Unterricht: „In Österreich gibt es immer mehr Kinder, die aus verschiedenen Gründen kaum oder gar nichts essen. Hungrig lernt es sich nicht gut“, sagt Elke Larcher, Referentin für Schulpolitik und Elementarpädagogik in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien.

Ganztagsschulkonzept statt vererbter Bildung

Generell macht sich in Österreich bemerkbar, dass Bildung weiterhin vererbt wird und es politische Schritte für mehr Bildungsgerechtigkeit braucht. 57 Prozent der Kinder, deren Eltern einen Universitätsabschluss haben, erreichen in Österreich ebenfalls einen Hochschulabschluss. Haben die Eltern maximal die Pflichtschule absolviert, gelingt das nur rund 7 Prozent der Kinder. Bildungsungleichheit manifestiert sich dabei bereits in frühen Jahren. „Die Art, wie Schule funktioniert – wann sie anfängt, wann sie endet, wie unterrichtet wird –, unterstützt die starke Bildungsvererbung“, erklärt Elke Larcher. Wer über Bildungsgerechtigkeit diskutiere, müsse sich zunächst einmal Kindergarten und Vorschule ansehen. Je nach Bildungshintergrund der Eltern würden die Kinder bei der Einschulung drei Entwicklungsjahre trennen. Während manche Kinder eine ganze Bibliothek zu Hause hätten, gebe es in anderen Haushalten nicht einmal eine stabile Internetverbindung.

Elke Larcher, Bildungsexpertin von der AK Wien, im Interview über das Ganztagsschulkonzpet.
Der Bildungshintergrund der Eltern entscheidet in Österreich oft über die Bildungswege der Kinder. Ganztagsschulen können diese Unterschiede ausgleichen, weiß Elke Larcher von der AK Wien. | © Markus Zahradnik

Doch statt des Ganztagsschulkonzepts ist die Halbtagsschule dennoch nach wie vor das Standardmodell. Der Unterricht findet bis mittags statt, danach gehen die Kinder entweder nach Hause oder in eine Nachmittagsbetreuung, falls diese angeboten wird. Die Verantwortung dafür, dass sie die Hausaufgaben machen, liegt bei den Familien. „Kinder hören in der Schule die Dinge einmal, aber das Wiederholen und Verinnerlichen muss zu Hause stattfinden“, so Bildungsexpertin Larcher. „Wenn Eltern keine emotionalen oder zeitlichen Ressourcen haben, um ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen, haben diese keine Chance, mit ihren Mitschüler:innen mitzuhalten.“

Infograifk: Schüler und Shcülerinnen in Österreich, die in einer Schule mit Ganztageskonzept sind.
Quelle: BMBWF

Ganztagsschulkonzept soll Lücken schließen

Je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto leichter fällt es ihnen in der Regel, die Kinder beim Lernen zu unterstützen. Es kommt aber auch darauf an, wo sie ihren Bildungsweg durchlaufen haben. „Es gibt viel informelles Wissen über Lernen und Bildung, das Eltern nur haben, wenn sie selbst in Österreich eine Schule besucht haben“, sagt Elke Larcher. Das österreichische Schulsystem setze stark auf die private Verantwortung, die Familien für die Bildung ihrer Kinder tragen. Die Spitze des Eisbergs sei die Nachhilfe. „Jede:r zweite AHS-Schüler:in bekommt Nachhilfe, und wenn Ressourcen fehlen, dann bleibt der Weg zur Matura versperrt. Das hat nichts mit den Fähigkeiten der Kinder zu tun“, weiß Larcher. Dazu kommt, dass viele Kinder zu Hause keinen eigenen Arbeitsplatz haben, um ungestört lernen zu können.

Das Ganztagsschulkonzept könnte diese österreichischen Bildungslücken schließen. Ursprünglich eingeführt, um die Betreuungssicherheit zu gewährleisten, haben sie zusätzlich das Potenzial, Bildungsgerechtigkeit zu fördern. „Eine gute Ganztagsschule leistet zwei Dinge“, sagt Larcher: „Sie ist so organisiert, dass jedes Kind die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen erwirbt und am Ende neben Deutsch idealerweise die Muttersprache gut beherrscht.“ Das zweite und noch wichtigere Ziel seien die Entwicklung von Stärken und der Zugang zu qualitativ hochwertiger Freizeit. „Diese ist für die Zukunft der Kinder ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger als der Lehrplan“, sagt Elke Larcher.

Freizeit kann lernwirksam sein

Nach der Mittagspause starten die Schüler:innen der Vereinsgasse in den Nachmittag, der aus Lernen und Freizeit besteht. Klassische Hausübungen gibt es nicht. Die Kinder machen die Aufgaben mit Unterstützung der Lehrer:innen in der Schule. Neben dem schulischen Lernen sei ein freizeitpädagogisches Angebot essenziell für die Entwicklung, da dieses besonders auf die Förderung des Selbstwerts der Kinder abziele, meint Larcher: „Sie bekommen ein Verständnis dafür, wer sie sind, was sie können oder nicht können und wie zum Teil auch schwierige Aufgaben gelöst werden. Das sind alles Punkte auf der Landkarte, die sich in der Psyche eines Menschen bildet. Die gelernten Fertigkeiten unterstützen auch das schulische Lernen.“

Infografik: Anzahl der Schulen in Österreich mit Ganztageskonzept.
Quelle: BMBWF

In der Vereinsgasse machen die Kinder jede Woche einen ganztägigen Ausflug. Gemeinsam mit ihren Lehrer:innen und den Freizeitpädagog:innen sind sie unterwegs, um entweder einen Unterrichtsgegenstand in der Praxis zu vertiefen oder auf den Spielplatz zu gehen. „Bei uns gibt es außerdem einen Mehrsprachigkeitsschwerpunkt, die Kinder können Bastelkurse besuchen oder lernen das Fahrradfahren“, sagt Schulleiterin Lener. Der Schultag endet um 17:20 Uhr.

Ganztagsschulkonzept: Städte beim Ausbau klar im Vorteil

Das Ganztagsschulkonzept hat das Potenzial, faire Bildungschancen für alle zu sichern. Dennoch geht der Ausbau nur schleppend voran. „Wir beobachten zwischen den Bundesländern ein ziemliches Gefälle, wobei es Städte deutlich leichter haben“, sagt die Bildungsexpertin der AK. „Während Wien und das Burgenland stark auf Ganztagsschulen setzen, sind sie im Westen ein völlig vernachlässigtes Thema. Dort gibt es – wenn überhaupt – nur schulische Nachmittagsbetreuung.“


Ein Grund für den Mangel sei, dass die Umsetzung von den Gemeinden organisiert wird. Diese hätten jedoch zu wenig personelle und finanzielle Ressourcen, um sinnvolle und lernwirksame freizeitpädagogische Angebote zu schaffen. „Die nächste Regierung muss die dringenden Bildungsreformen angehen. Neben der zeitlichen Organisation von Schule ist es auch wichtig, dass sie erkennt, dass nicht jede Schule in Österreich gleich ist“, sagt Larcher und ergänzt: „Es macht einen Riesenunterschied, wo die Schulen sind, weil die Bildungsgrundlagen der Kinder komplett unterschiedlich sind.“ Investitionen in frühkindliche Bildung und Volksschulen seien nicht nur bildungspolitisch sinnvoll, sondern seien auch eine präventive sozialpolitische Maßnahme, weil dadurch kostspielige Reparaturmaßnahmen auf dem zweiten und dritten Bildungsweg vermieden würden. Es brauche Planungssicherheit für die Schulen. „Was es nicht braucht, ist mehr Leistungsdruck für Schüler:innen, denn der schnürt ein Korsett, in dem sie sich schlecht entwickeln können“, sagt Elke Larcher.

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Über den/die Autor:in

Nadja Riahi

Nadja Riahi arbeitet als freie Journalistin und Moderatorin in Wien. Sie schreibt über gesellschaftspolitische Fragestellungen der Gegenwart und Zukunft, soziale Ungerechtigkeiten und die Arbeitswelt.

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