Im ganzen Land legen hunderttausend Frauen ganz oder teilweise die Arbeit nieder, um für mehr Geschlechtergerechtigkeit zu demonstrieren.
In vielen Städten und Dörfern wurden Märsche, Kundgebungen und viele andere Aktionen organisiert. Allein in Bern beteiligten sich bis Mittag etwa 10.000 Menschen an dem Frauenstreik. Gegen Mittag legten die DemonstrantInnen den Verkehr rund um den Züricher Bahnhof kurzzeitig lahm. In der Westschweiz wurden Dutzende Schulen und Kindertagesstätten bestreikt, und in Luzern kam es zu einem Sitzstreik. Es war nicht das erste Mal, dass sie das taten: Die Schweizerinnen bewiesen bereits beim ersten Frauenstreik im Jahr 1991, dass ohne die sichtbare und unsichtbare Arbeit von Frauen, wie etwa Pflege, Kinderbetreuung und Haushalt, nicht viel geht. Damals war es erst zehn Jahre her, dass die Gleichstellung von Frau und Mann in der Verfassung niedergeschrieben wurde. Eine halbe Million Frauen ging 1991 auf die Straße.
Von den schweizerischen Gewerkschaften wird besonders kritisiert, dass im Kampf gegen die Lohndiskriminierung seitens der Politik nur wenig wirksame Maßnahmen – ohne Sanktionsmöglichkeiten – gesetzt wurden.
Für viele hat sich seitdem zu wenig getan – auch für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Von den Gewerkschaften besonders kritisiert wird, dass im Kampf gegen die Lohndiskriminierung seitens der Politik nur wenig wirksame Maßnahmen – ohne Sanktionsmöglichkeiten – gesetzt wurden.
Schweiz hinkt hinterher
„Ein Tag Vaterschaftsurlaub, das reicht nicht einmal für eine Geburt, wenn sie länger dauert. Erst kürzlich hat die Politik in der Schweiz sogar beschlossen, dass zehn Tage für Väter – wie zum Beispiel vom EU-Parlament beschlossen – auch zu viel sind“, kritisiert Rosenkranz und fügt hinzu: „Man muss sich das einmal vor Augen führen: In der Schweiz – mit viel Geld, mehr Geld als in vielen anderen Ländern – gibt es keine Familienpolitik!“
Entwicklungspotenzial
Viel Entwicklungspotenzial besteht außerdem bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die öffentliche Hand beteiligt sich nur minimal an den Kosten für die Kinderbetreuung. Das führt dazu, dass die Betreuungsplätze sehr knapp und teuer sind. Ein UNICEF-Ranking der reichsten Staaten zum Thema Familienfreundlichkeit verweist die Schweiz in Europa sogar auf den letzten Platz.
Hierzulande braucht es viel bessere Vereinbarkeitsstrukturen: mehr Kindergärten, mehr Tagesschulen.
Linda Rosenkranz, Leiterin der Kommunikationsabteilung von Travail.Suisse
„Hierzulande braucht es viel bessere Vereinbarkeitsstrukturen: mehr Kindergärten, mehr Tagesschulen. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind wirklich sehr, sehr groß. In den Städten gibt es solche, am Land nicht“, erklärt auch Rosenkranz von Travail.Suisse. Zwar herrscht auch in Österreich noch viel Aufholbedarf bei der Kinderbetreuung, und doch zeigt der Vergleich, dass die Schweizerinnen noch für vieles streiken müssen, was in Österreich bereits von den Gewerkschaften erreicht werden konnte.
Breite Unterstützung
Etwa indem sie die Arbeit der Frauen übernehmen oder an diesem Tag die Kinder betreuen, um Frauen das Streiken zu ermöglichen, oder gemeinsam mit den Frauen auf die Straße gehen.
Wie wichtig diese Unterstützung und der gemeinsame Einsatz für eine echte Gleichstellung ist, beweist auch die Vergangenheit: Als eines der letzten europäischen Länder hat die Schweiz 1971 das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt. Weitere 20 Jahre dauerte es allerdings, bis dieses in allen Kantonen und Gemeinden umgesetzt wurde. Zum Vergleich: In Österreich trat das Frauenwahlrecht 1918 in Kraft.
Frauen und Medien
Eine erste Veränderung konnte der diesjährige Frauenstreik erzielen, und das schon vor seinem eigentlichen Termin. Gleichstellung ist für viele ein selbstverständliches Tagesthema geworden – sei es auf der Straße oder in den Medien. Ganz im Gegensatz zu dem Frauenstreik aus dem Jahr 1991 – der von den Medien kleingeredet und als harmloses, farbenfrohes Frauenfest abgetan wurde – waren Lohngleichheit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Gewalt an Frauen dieses Jahr die Themen, die in den vergangenen Monaten einerseits die schweizerische Medienlandschaft dominiert haben und andererseits am meisten diskutiert wurden.
Man merkt zwar eine gewisse Veränderung zum Positiven, aber immer noch nicht genug.
Nichtsdestotrotz habe sich in der medialen Wahrnehmung von Frauen nicht viel verändert, meint Rosenkranz. „Man merkt zwar eine gewisse Veränderung zum Positiven, aber immer noch nicht genug. Wahnsinnig oft las man, dass der Frauenstreik nicht notwendig ist. Frauen hätten doch alles: Sie können studieren, es studieren sogar mehr Frauen als Männer. Aber wie es danach aussieht, dafür interessieren sich die Journalistinnen und Journalisten offenbar zu wenig.“ Ob sich das nach diesem Frauenstreik, laut Organisatorinnen „die größte politische Demonstration in der jüngeren Geschichte der Schweiz“, ändern wird, bleibt abzuwarten.
Gespannt kann man auch sein, ob und inwiefern sich die schweizerische Politik beim Thema Vaterschaftsurlaub bewegen wird. Immerhin sprechen sich laut Umfragen 81 Prozent der SchweizerInnen dafür aus. Für Rosenkranz wäre das ein realistischer erster Schritt, der dazu führen würde, bezahlte und unbezahlte Arbeit gerechter aufzuteilen. „Damit man beim Wiedereinstieg in den Job aber gleiche Bedingungen vorfindet, ist jedoch klar, dass es bessere Löhne für Frauen und längerfristig Elternzeit braucht“, betont die Gewerkschafterin.
Kein Zurücklehnen
Auch wenn die Schweiz in puncto Gleichstellung vielen anderen europäischen Staaten stark hinterherhinkt, gibt es kaum ein Land, das sich wirklich ausruhen kann, wenn es um Frauenrechte geht – auch Österreich nicht. Hierzulande ist die Lohnungleichheit mit rund 20 Prozent sogar höher als in der Schweiz. Und auch 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts liegen Kinderbetreuung und Haushalt – also unbezahlte Arbeit – nach wie vor in der Verantwortung von Frauen und die Chefetagen fest in Männerhand. Von 186 Vorständen österreichischer börsennotierter Unternehmen sind nur neun weiblich.
Gewerkschaft Unia zum Frauenstreik
frau-streikt.ch
Travail.Suisse
www.travailsuisse.ch
Amela Muratovic
ÖGB-Kommunikation
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/19.
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