Franz Vranitzky: „Schnelllebigkeit und Frustration führen zu Demokratie-Müdigkeit“

Porträt Franz Vranitzky
Der ehemalige Bundeskanzler Franz Vranitzky warnt vor einem „Krypto-Wahlsystem im Zeitalter des Turbo-Kapitalismus“. | © Wolfgang Wolak / picturedesk.com
Was bedeutet uns Demokratie und wie können wir sie schützen? Der ehemalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) erklärt, warum viele Menschen der Demokratie skeptisch gegenüberstehen.
Weltweit ist die Demokratie auf dem Rückzug. Das ist das Ergebnis einer internationalen Studie des britischen Economist-Verlags von 2024. Zwar lebt demnach fast die Hälfte der Weltbevölkerung in einer Form der Demokratie, jedoch befinden sich davon nur 7,8 Prozent in einer „vollständigen Demokratie“ und mit 39,4 Prozent mehr als ein Drittel unter autoritärer Herrschaft. Nur 23 Länder, darunter auch Österreich (19. Platz), werden als „vollständige Demokratie“ eingestuft. Im Interview erklärt Franz Vranitzky, wie sehr Demokratie mit der sozialen Frage und Gerechtigkeit verknüpft ist.

Zur Person

Geb. 4. Oktober 1937 in Wien; Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien (Dipl.-Kfm., Dr.). Ab 1976 war Vranitzky in leitender Funktion in verschiedenen österreichischen Banken tätig. Von 1984-1986 Bundesminister für Finanzen und von 1986-1997 Bundeskanzler der Republik Österreich. Von 1988-1997 Bundesparteivorsitzender der SPÖ. Zahlreiche internationale Tätigkeiten. Gründungs- und Ehrenpräsident des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog. Viele höchste Auszeichnungen, als einziger Österreicher ist Vranitzky Träger des Karlspreises für europäische Integration.

Herr Vranitzky, warum erscheint die liberale Demokratie vielen Bürgerinnen und Bürgern eher als Mangel denn als Gewinn?

Franz Vranitzky: Ich führe diese Entwicklung auf mindestens zwei Ursachen zurück: Die eine ist die ins Extreme gehende Schnelllebigkeit sowie die verantwortungslose Meinungsäußerung in den sozialen Medien. Die andere Ursache ist die Schwäche der Führungskräfte in der Politik, Wirtschaft und Kultur, die nicht aufstehen und sagen: So geht es nicht.

Was meinen Sie mit Schnelllebigkeit?

Die Schnelllebigkeit unserer Zeit wird durch moderne Technologien und soziale Netzwerke verschärft. Das führt bei vielen Menschen zu der Erwartung, dass Entscheidungen sofort getroffen werden müssen, egal, ob im privaten oder öffentlichen Bereich. Wenn nun aber der Eindruck vorherrscht, dass politische Entscheidungen zu lange dauern, kommt bei vielen Unzufriedenheit und Frustration, nicht selten auch Wut, über die Langsamkeit politischer Entscheidungsprozesse auf. Die Komplexität der Inhalte und die globalen Zusammenhänge machen die Sache nicht leichter und verstärken diese Eindrücke der Menschen. Das alles bildet eine giftige Mischung: das Alte gegen das Neue, das „Hockenbleiben“ gegen den Fortschritt, das Demokratische gegen das Autokratische.

Ein Blick auf Ungarn und die Slowakei zeigt: Illiberale Demokratie bringt Einschränkungen bei Meinungs-, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das sagt Franz Vranitzky. | © Wolfgang Wolak / picturedesk.com

Lange Verhandlungen, Ringen um Ergebnisse – verstärkt das die Demokratie-Müdigkeit?

Wenn etwas nicht schnell genug geht, obwohl Gründlichkeit nützlich ist, werden das institutionelle Gefüge, die Regierung oder die Partei öffentlich kritisiert und das System der Entscheidungsfindung infrage gestellt. Auch Kompromisse, eine Form der Problemlösung, werden für Schacher gehalten. Das ergibt zusammengefasst ein Bild der Unzufriedenheit, ja der Entrüstung, welches sich auch die FPÖ gerne zu eigen macht. Sie sagt, das System müsse radikal geändert oder beseitigt werden. Also: gegen den Parlamentarismus, für den „starken Mann“, der rasch entscheidet.

Gibt es zu wenig Menschen, die diesem Bild etwas entgegensetzen?

Es gibt zu wenig überzeugende Führungskräfte in der Politik, in der Wirtschaft, aber auch in Bildung und Kultur. Sie erheben zu selten ihre Stimme, wenn vor lauter Wut und Enttäuschung die Demokratie infrage gestellt wird. Aber immerhin sagen sie, dass sie es gemeinsam mit den Bürger:innen verbessern wollen und es nicht abschaffen wollen.

Wenn etwas nicht schnell genug geht,
obwohl Gründlichkeit nützlich ist,
werden das institutionelle Gefüge, die Regierung oder die Partei
öffentlich kritisiert und das System der Entscheidungsfindung infrage gestellt.

Franz Vranitzky

Im Zeitalter des Turbokapitalismus gibt es aber auch Einzelpersonen oder Unternehmen, die weltweit sehr viel Macht haben – und die nie gewählt worden sind. Elon Musk, Jeff Bezos, Warren Buffett, die Samsung-Familie (Anm. d. Red. die Familie Lee) zum Beispiel. Im Turbokapitalismus muss man sehr aufpassen, dass sich nicht Krypto-Wahlsysteme einschleichen bzw. sie sind ja schon da.

Was hätte es für Konsequenzen, wenn wir die liberale Demokratie abschaffen würden?

Die Folgen für die Menschen, für die gesamte Gesellschaft, für den Staat hätte, wären gewaltig. Sie brächten nur Nachteile. Man kann in Europa bleiben und die Nachbarländer Ungarn und die Slowakei schauen: Was hat illiberale Demokratie dort gebracht? Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Rechtsstaatlichkeit. Das sind keine abstrakten politischen Angelegenheiten. Wenn Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit der Justiz, der Presse und der Meinungsäußerung durch politische Mehrheiten vorenthalten wird, dann bekommen sie ihr Recht nicht. Und das darf es nicht geben.

Die liberale Demokratie ist parlamentarisch verfasst.

Ja, aber selbst das garantiert nicht, dass die breiten Massen davon überzeugt bleiben.

Welche Verantwortung haben Organisationen, die sich für Arbeitnehmerrechte einsetzen, für die Demokratie?

Mit ihrer Vertretung der Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, mit ihrem Informations- und Bildungsauftrag sind ÖGB und Arbeiterkammer vorbildlich. Die Wissensvermittlung, die Bildung und Fortbildung und auch das wissenschaftliche Arbeiten gehören zur DNA von Gewerkschaft und AK.

Statistiken zeigen, dass sich die Einkommensschere zwischen Besser- und Schlechterverdienenden öffnet. Wie ist das zu bewerten?

Das kapitalistische System tendiert dazu. Das führt immer wieder zu Auseinandersetzungen mit konservativen Kräften, weil sie sozialen Ausgleich anders verstehen. Die Geschichte zeigt die unterschiedliche Herangehensweise: Für Sozialdemokraten ist die soziale Frage ein unumstößlicher Grundsatz, Gerechtigkeit in der Gesellschaft walten zu lassen. Konservative wollen das nicht materialisieren, was Krisen auch zeigen.

Sie haben die Große Koalition aus SPÖ und ÖVP in der Vergangenheit immer wieder verteidigt. Gilt das auch heute noch?

Die Rahmenbedingungen haben sich sehr verändert. Als ich 1986 das Amt des Bundeskanzlers übernommen habe, war ich mit einer Kleinen Koalition aus SPÖ und FPÖ konfrontiert. Die Regierung mit den Freiheitlichen war für mich, nicht zuletzt wegen Jörg Haider, nicht tragbar. Die Große Koalition mit der ÖVP, die ich dann gebildet habe, kann man kritisieren, aber insgesamt war die Leistung dieses Jahrzehnts herzeigbar. Die Errungenschaften waren sicher der EU-Beitritt Österreichs; die Lossagung von der These, Österreich sei erstes Opfer der Nazis gewesen; die Rettung der Verstaatlichten; die große Steuerreform; Investitionen in die Infrastruktur sowie die Förderung der Kunst- und Kulturszene. Die offene, liberale Gesellschaft war kein bloßes Schlagwort.

Die Regierungsform Große Koalition ist aber im Kontext der Zeit sowie der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zu sehen. Was die aktuelle Situation angeht, so ist das Wahlergebnis abzuwarten. Dann wird man sehen, wie die Positionen zusammenpassen, welche Kompromisse möglich sind und was Absichtserklärungen und Versprechen gilt – oder auch nicht. Ich nenne nur die Beispiele der Landesregierungen in Niederösterreich und Salzburg, wo die ÖVP entgegen früherer/einstiger Aussagen Koalitionen mit der FPÖ eingegangen ist.

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Über den/die Autor:in

Margaretha Kopeinig

Margaretha Kopeinig ist freie Journalistin, Autorin und Brüssel-Korrespondentin für den Kurier. Ihre universitäre Ausbildung führte sie nach Wien und Bogotá, wo sie sich mit den Schwerpunkten Politik, Soziologie und Geschichte beschäftigte.

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