Zu kurz gegriffen
Zumeist sind es UnternehmerInnen und deren VertreterInnen, die sich über den Wirtschaftsstandort äußern – und recht oft fällt ihr Urteil nicht gerade positiv aus. Doch dieser Blick ist manchmal einseitig und greift zu kurz, weil er vieles außer Acht lässt, was für selbstverständlich genommen wird: zum Beispiel soziale Sicherheit, öffentlich finanzierte Infrastruktur, ein Bildungswesen, das zwar zu Recht kritisiert werden kann, aber doch viele gut qualifizierte Fachkräfte hervorbringt. Dazu gehören auch Planungssicherheit, ein umfangreiches Förderwesen, gute Löhne und zufriedene ArbeitnehmerInnen, die so gut wie nicht streiken – und überhaupt eine gute Partnerschaft zwischen ArbeitnehmerInnen und Arbeitgebern.
Im Moment scheint die Standortdebatte ein wenig in Schieflage geraten zu sein. Christa Schlager, Leiterin der Abteilung Wirtschaftspolitik in der AK Wien, kritisiert, dass die ArbeitnehmerInnen nicht mehr mitgedacht würden: „Wir haben das Gefühl, dass die Beschäftigtenperspektive verloren geht.“ Aber: „Um zu wirtschaften, braucht man sowohl die Ressource Arbeit als auch die Ressource Kapital. Es ist unsinnig, einen dieser wichtigen Parts außer Acht zu lassen.“ Das passiere aber, denn die Regierung verkündete eine Standortpartnerschaft zwischen ihr selbst, der Industrie und der „Wirtschaft“ – ein Begriff, der fälschlicherweise Beschäftigte ausschließt, auch wenn sie ebenfalls Teil dieser Wirtschaft sind. Die ArbeitnehmerInnen wurden denn auch in dieser Partnerschaft nicht einmal erwähnt. Die Standortdebatte sollte laut Schlager nicht nur aus der Sicht der Unternehmen geführt werden, sondern es gehe beim Wirtschaften vielmehr um das Thema Wohlstand für alle. „In einem hoch entwickelten Land wie Österreich, wo wir nicht auf eine Preis- oder Kostenführerschaft setzen, sind die Menschen sehr wichtig für den wirtschaftlichen Erfolg“, sagt die AK-Expertin. „Wir sehen die Pläne der Regierung daher als kurzsichtig und zu unausgewogen an“, so Schlager.
Wir haben das Gefühl,
dass die Beschäftigtenperspektive verloren geht.
Christa Schlager, AK Wien
Nur eines von 14 Unternehmen in Österreich setzt auf das Kostenargument, versucht seine KundInnen also durch besonders niedrige Preise zum Kauf seiner Produkte oder Dienstleistungen zu bringen. Und das ist etwas, was sehr für den Standort und vor allem seine Innovationskraft spricht, was wiederum als wichtig für die zukünftige stabile wirtschaftliche Entwicklung erachtet wird. „Man wird nicht österreichische Qualität zu lettischen Löhnen bekommen“, bringt es Markus Marterbauer, Leiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien, auf den Punkt. Und das würde auch niemand wollen.
Lebensqualität von Bedeutung
Apropos Qualität: Dazu gehört auch Lebensqualität. Wo es sich nicht gut und gerne lebt, wollen vor allem hoch qualifizierte Menschen nicht hingehen oder bleiben. Die Arbeiterkammer hat 2018 erstmals den AK-Wohlstandsbericht (mittlerweile ist der Wohlstandsbericht 2022 erschienen) herausgegeben. Was sie unter Wohlstand versteht, wird schon auf der Titelseite des Berichts dargestellt, nämlich insgesamt fünf Punkte: ökonomische Stabilität, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, hohe Lebensqualität, intakte Umwelt und fair verteilter materieller Wohlstand. „Breiter Wohlstand heißt breite Nachfrage und gute Geschäfte“, sagt AK-Expertin Schlager.
Genau genommen sind die Standortargumente aus Sicht von Wirtschaft und ArbeitnehmerInnen oft gar nicht so gegensätzlich. Letzten Endes wollen alle, dass es den Unternehmen gut geht und sie prosperieren. Denn das ist auch für die ArbeitnehmerInnen positiv und erhält ihre Arbeitsplätze, sofern sie nicht ersatzlos wegautomatisiert werden. Problematisch wird es nur, wenn sie nicht mehr genügend vom wirtschaftlichen Erfolg ihrer Arbeitgeber profitieren, sondern ein Großteil der Gewinne in den Händen von UnternehmerInnen und InvestorInnen landen. Das Gefühl der Gerechtigkeit, das auch durch Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft genährt wird, ist laut Markus Marterbauer „eine ganz wichtige Größe“. Es sei zudem „eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir in Österreich die Streikzeit in Sekunden statt in Tagen messen“.