Europa muss zusammenhalten – jetzt erst recht!

Evelyn Regner, EU-Politikerin im Interview mit A&W.
"Und wir sollten – jetzt erst recht – an unseren sozialpolitischen Ideen dranbleiben und darüber reden, wie davon alle profitieren", erzählt die EU-Abgeordnete Evelyn Regner im Interview mit A&W. | © Markus Zahradnik
Zusammenhalt der konstruktiven Kräfte: Die EU-Politikerin Evelyn Regner bricht im Interview mit Arbeit&Wirtschaft eine Lanze für die paneuropäische Kooperation und eine starke Europäische Union.
Oft kommt in Gesprächen heutzutage die Sorge darüber auf, wohin sich das Erfolgsmodell Demokratie entwickelt. Eine Gruppe von Milliardär:innen regiert in den USA nun mit, und auch in Europa steigt durch den Rechtspopulismus der Einfluss wohlhabender Oligarch:innen auf die Politik. Europa zu stärken heißt deshalb auch, genauer hinzuschauen auf Konzernlobbys und die Finanzierung antidemokratischer Allianzen, betont die sozialdemokratische EU-Abgeordnete und erfahrene Europapolitikerin Evelyn Regner.

Evelyn Regner
geboren 1966, ist EU-Abgeordnete der SPÖ und Vorsitzende der Delegation für die Beziehungen mit den Ländern des MERCOSUR. Von 2022 bis 2024 war sie Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.
Frau Regner, wie stark ist die Lobbymacht der Konzerne in der Europäischen Union?

Evelyn Regner: Die ist gerade in Brüssel sehr präsent. Ein Grund dafür ist, dass die europäischen Institutionen etwas im Abseits stehen, was die mediale Wahrnehmung angeht. Natürlich gibt es viele Fernsehstationen hier, der ORF hat Korrespondent:innen in Brüssel und so weiter. Aber zu den wirklich relevanten Themen, die unser aller Leben beeinflussen, findet man in der breiten meinungsbildenden Medienöffentlichkeit viel zu wenig, etwa zu Fragen wie: Schaffen wir mehr Regeln für die Konzerne? Kriegen wir eine Kapitalmarktunion oder nicht? So etwas kommt bei den Menschen nicht an – sondern nur Mythen wie: „Die EU will uns wieder etwas aufs Aug’ drücken.“

"Es gilt, die Abkühlungsphasen beim Jobwechsel aus der Politik in die Privatwirtschaft besser auszugestalten", betont die EU-Abgeordnete Evelyn Regner.
„Es gilt, die Abkühlungsphasen beim Jobwechsel aus der Politik in die Privatwirtschaft besser auszugestalten“, betont die EU-Abgeordnete Evelyn Regner. | © Markus Zahradnik
Und das nutzen Lobbys aus?

Ja, der Druck der Lobbys kann durch fehlende Medienkontrolle besonders stark wirken. Und in der Debatte fehlen dann oft die Gegenargumente auf die Forderungen, die durch Lobbys ins Spiel gebracht werden. Denn bei deren Arbeit geht es vielmehr um Argumente und Meinungsbeeinflussung als um handfeste Korruption, wie man sie sich dann immer vorstellt – also dass Abgeordnete durch Essenseinladungen o. Ä. „gekauft“ werden. Vielmehr werden systematisch Bilder kreiert und Stimmungen erzeugt.

Sind EU-Themen zu sperrig, zu wenig erzählbare Geschichten?

Es gibt fantastische Geschichten – ich könnte viele erzählen. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie wir in der Finanzkrise ab 2008 Nächte hindurch die Bankenregulierung verhandelt haben. Das Problem ist, dass wir als Politiker:innen manchmal jahrelang dranbleiben müssen, bis etwas umgesetzt wird. Und wie kannst du Journalist:innen so lange bei der Stange halten?

In welchen Branchen üben Lobbys den meisten Druck aus?

Die Pharmabranche kann man hier sicher als Beispiel nennen. Je mehr Mittel Konzerne oder Verbände zur Verfügung haben, desto präsenter sind sie – siehe die heutigen Wahlkämpfe, etwa in den USA: Mit einem höheren Wahlkampfbudget für Werbung, nicht zuletzt auf Social Media, kann man die Stimmung rund um ein Thema verändern. Konzernlobbys arbeiten seit Jahren daran, ein ihnen entsprechendes Umfeld zu kreieren.

Wie zeigt sich das?

Etwa die Botschaft „EU heißt Bürokratie“: Das ist ein riesengroßer Blödsinn. Vielmehr reduziert die EU Bürokratie dadurch, dass vieles gemeinsam und nicht in 27 Ländern separat geregelt wird. Und: Lobbyismus gibt es in Österreich auch, da ist die Beeinflussung noch undurchsichtiger. Auf EU-Ebene bestehen mehr Transparenzregeln als auf nationalstaatlicher – und die werden auch umgesetzt und kontrolliert.

Der Europäische Rechnungshof kritisierte 2024 das EU-Transparenzregister. Lobbyist:innen würden die Vorgaben der EU umgehen können.

Sicher könnte man da mehr machen. Die Kritik des Rechnungshofes spiegelt eine sozialdemokratische Forderung wider, die wir seit Jahren stellen. Da geht es um Punkte wie Einladungen, etwa von Universitäten – ich nehme die Möglichkeit für wertvollen Austausch gerne wahr, aber zahle die Reise selbst, anstatt sie auf Rechnung der Universität zu machen. Auch die Abkühlungsphasen beim Jobwechsel aus der Politik in die Privatwirtschaft gilt es besser auszugestalten. Aktuell liegt die Zeit, die zwischen so einem Wechsel liegen muss, bei sechs Monaten, das ist zu wenig. Natürlich muss man da auch realistisch sein. Wir wollen Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft in politischer Gestaltungsverantwortung, die Expertise aus einem Bereich mitbringen – und die benötigen dann später eine Perspektive.

Wir müssen das, wofür wir stehen,
die konstruktiven Kräfte eines solidarischen Europas, stärker betonen. 

Evelyn Regner, EU-Abgeordnete

Wie kann man auf EU-Ebene auf antidemokratische Tendenzen, auf den Rechtsruck in verschiedenen Staaten, reagieren?

Es gibt nicht die eine Lösung. Einer meiner Ansätze: „Follow the money!“ Wer finanziert diese antidemokratischen Strömungen? Und auch die schon erwähnten Lobbyorganisationen und Thinktanks: Hinterfragen wir stärker Allianzen und ihre Motive! Im Rahmen der Weltklimakonferenz 2024 kooperierte der Vatikan mit Russland und Saudi-Arabien. Was haben sie gemeinsam? Die wollen die Frauen klein machen!

Und Finanzierungsquellen gilt es regulatorisch besser einzuschränken – sonst werden unsere Demokratien käuflich. Dazu müssen wir das, wofür wir stehen, stärker betonen. Denn Angst lähmt, Optimismus zu hegen und das Gute aufzuzeigen macht stärker. Gewerkschaften machen glücklich, Kooperation macht glücklich. Einzelkämpfer:innen hängt bald die Zunge heraus, auch auf europäischer Ebene. Und wir sollten – jetzt erst recht – an unseren sozialpolitischen Ideen dranbleiben und darüber reden, wie davon alle profitieren.

Wovon zum Beispiel?

Unlängst hatten wir im Wirtschafts- und Währungsausschuss tolle Steuerrechtler:innen eingeladen. Im Austausch wurde klar, wie wir verdammt viel machen können, damit es Frauen besser geht, und dadurch der gesamten Gesellschaft – Stichwort Vermögenssteuer. Die sozial Benachteiligten können von progressiven Steuersystemen profitieren.

Gehört zum Kampf für die Demokratie auch die Tech-Regulierung der EU, also Gesetzesinitiativen zu Internet- und Datenregulierung (Digital Services Act und Digital Markets Act) oder auch der AI Act zu künstlicher Intelligenz?

Natürlich, das ist wieder ein Beispiel dafür, dass wir gemeinsam stark sind! Konzernen kannst du als Österreich allein nicht viel entgegensetzen, als EU aber schon. Und das machen wir und haben wir auch in den Bereichen Konsument:innenschutz und Arbeitnehmer:innenrechte getan. Wir müssen als kleines Land immer mehr geopolitisch denken. Es sind in der Welt neue Blöcke entstanden, die miteinander konkurrieren. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine haben wir den Krieg vor der Haustür und durch gezielte Desinformationskampagnen auch in unseren sozialen Medien. Wir wissen nicht mehr, ob wir uns auf die USA als transatlantischen Partner verlassen können. Europa muss zusammenhalten.

Evelyn Regner, EU-Abgeordnete, erzählt im A&W-Interview über die Lobbymächte in Europa und spricht sich für eine Stärkung der europäischen Zusammenarbeit aus.
Evelyn Regner stammt aus Wien und studierte Rechtswissenschaften. Seit Mitte der 1990er-Jahre war sie in Wien und Brüssel beim ÖGB tätig, 2009 wurde sie zur Abgeordneten des EU-Parlaments gewählt. | © Markus Zahradnik
Mark Zuckerbergs Meta ging in Sachen Faktenchecks auf Konfrontationskurs mit der EU. In der neuen US-Regierung befinden sich gleich mehrere Oligarch:innen, die wohl vor allem eigene Interessen durchsetzen wollen. Wie reagiert die EU darauf?

Die schockierende Ankündigung, Faktenchecks bei allen Meta-Plattformen auszusetzen, lässt sich in der EU nicht so leicht umsetzen wie in den USA. In der EU gilt die Regelung für digitale Dienstleistungen, der Digital Services Act (DSA) – eine Errungenschaft, welche die großen Plattformen dazu verpflichtet, Informationen zu prüfen und Falschinformationen zu löschen. Die EU muss hier stark bleiben, den DSA konsequent umsetzen und Elon Musk, Zuckerberg und Co zur Kasse bitten, wenn sie gegen diese Regeln verstoßen. Allgemein gilt es, als Europa stärker zu werden und enger zusammenzustehen. Wenn US-Präsident Donald Trump um jeden Preis US-Interessen durchsetzen will und Protektionismus ausruft, müssen wir die EU stärken – als Wirtschaftsmacht und als Werteunion.

Wie schätzen Sie die neue EU-Kommission ein? Diese setzt ja auf der einen Seite wohl u. a. auf Deregulierung, mit der spanischen Sozialistin und EU-Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera gibt es aber eine zentrale Figur, die für einen anderen Ansatz steht.

Die Kommission ist nicht das Problem. Sie wird relativ vernünftige Dinge vorlegen bzw. vorlegen wollen. Wir müssen aufpassen, dass die zwei gleichberechtigten Gesetzgeber, der Rat der EU – das Gremium der Mitgliedsstaaten – und das Europäische Parlament, die Entwicklung nicht arbeitnehmer:innenfeindlich beeinflussen. Denn entscheidend ist das Umfeld – und da ist die Frage, was man befürchten muss in einem Europa mit Staatschefs wie Viktor Orbán in Ungarn, Georgia Meloni in Italien oder Robert Fico in der Slowakei.

Wir wissen nicht mehr, ob wir uns auf die USA
als transatlantischen Partner verlassen können.
Europa muss zusammenhalten. 

Evelyn Regner, EU-Abgeordnete

Stichwort verändertes Europa: Als im Jahr 2000 eine ÖVP-FPÖ-Regierung angelobt wurde, ging ein Aufschrei durch Europa. Hat eine blau-schwarze Regierung 2025 noch diplomatische oder wirtschaftliche Folgen für Österreich?

Seit damals hat sich viel getan in Europa, und leider sind auch Regierungen mit rechtsextremen Parteien salonfähiger geworden. Das ist insbesondere den europäischen Volksparteien, wie in Österreich der ÖVP, zu verdanken, die gerne als Steigbügelhalter für die Rechten fungieren. Italien, die Niederlande und Ungarn haben derzeit rechte Regierungen. Solange eine blau-schwarze Regierung sich an die Regeln hält, drohen zwar keine Sanktionen, doch die Skepsis in Europa ist groß. Hier wird viel Vertrauen eingebüßt, insbesondere wenn Kickl als zweiter Orbán im Rat Veto-Machtspiele spielt und Beschlüsse verzögert. Dieses Vertrauen werden wir mühsam wieder aufbauen müssen. Von den massiven Folgen eines möglichen Versuchs, das Friedensprojekt EU von innen zu zerstören, rede ich hier noch gar nicht. Destabilisierung nutzt am Ende nicht der Bevölkerung, die weniger Spielraum hat, sondern den Autokrat:innen von Putin bis Trump, die die EU und die Länder Europas schwächen wollen.

Hallo Europa! Vor 30 Jahren ist Österreich der EU beigetreten. 🔵⭐

Doch was hat der Beitritt gebracht? Arbeit&Wirtschaft macht den Check. 👇

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— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 15. Januar 2025 um 16:30

Wir haben schon über Erfolge der EU gesprochen – Konsument:innenschutz, Tech-Regulierung etc.: Wo zeigen sich noch Errungenschaften des geeinten demokratischen Europas?

Gerade in den vergangenen Jahren haben wir aus frauenpolitischer Sicht Meilensteine gesetzt, auch zur Work-Life-Balance, mit Paketen zu Kinderrechten, zu Care-Arbeit oder in Sachen Lohntransparenz. Wenn das gut von den Mitgliedsstaaten umgesetzt wird, wirken viele Gesetze und Regelungen Hand in Hand. Das ist wie ein Netz, das immer dichter gewoben wird.

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Über den/die Autor:in

Richard Solder

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