„Wir sind Menschen, keine Roboter“

Demonstration für den Europäischen Amazon Betriebsrat.
Amazon macht ihrem Betriebsrat die Arbeit schwer. | © Kietzmann,Björn/Action Press/picturedesk.com
Das EU-Parlament hat Amazon-Lobbyisten rausgeworfen. Ob sich für die Beschäftigten jetzt etwas ändert? Agnieszka Mróz und Gianpaolo Meloni vom Europäischen Amazon Betriebsrat bezweifeln es.
Die Arbeit in Amazon-Lagern sehe aus wie im Charly-Chaplin-Film „Modern Times“, sagt Gianpaolo Meloni, Vorsitzender des Europäischen Amazon-Betriebsrats. Gewerkschaftsarbeit ist deshalb und aufgrund zahlreicher anderer unmenschlicher Arbeits- und Rahmenbedingungen in den Amazon-Lagern dringend notwendig. Doch sie wird systematisch behindert, berichtet Melonis Stellvertreterin Agnieszka Mróz. Im Interview sprechen die beiden über die Zustände an den diversen Arbeitsplätzen, dringend notwendige Verbesserungen und die Probleme mit der Gewerkschaftsarbeit.

Agnieszka Mróz
arbeitet seit zehn Jahren im Amazon-Lager im polnischen Posen und ist Aktivistin der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza, der mit 1200 Mitgliedern größten Gewerkschaft von Amazon Polen. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Europäischen Betriebsrats (EWC) und Mitglied von Amazon Workers International.
Gianpaolo Meloni
arbeitet seit 2012 bei Amazon als Lagermitarbeiter im oberitalienischen Piacenza. Seit 2022 ist er Vorsitzender des Europäischen Amazon-Betriebsrats European Work Council (EWC) und seit 2018 Präsident der EWC-Verhandlungen.
Warum ist es Ihnen wichtig, sich im Vorsitz des Europäischen Amazon-Betriebsrats European Work Council (EWC) zu engagieren, der 2018 gegründet wurde?

Gianpaolo Meloni: Als ich 2012 bei Amazon zu arbeiten begonnen habe, gab es dort noch keinen Betriebsrat. Ich habe gemeinsam mit einigen anderen Arbeiter:innen im Jahr 2015 einen gegründet, nachdem ich damals kurz davor war zu kündigen. Ich hatte Probleme mit meinen Beinen und konnte nicht schnell genug arbeiten. Amazon sagt, sie kümmern sich um ihre Arbeiter:innen, aber um mich haben sie sich nicht gekümmert. Was das Management bezüglich des Schutzes der Arbeiter:innen sagt, entspricht fast nie der Wahrheit. Es ist ein sehr stressiger und frustrierender Job und obwohl die Mitarbeiter:innen so viel leisten, werden sie schlecht behandelt.

Was sind Ihre wichtigsten gewerkschaftlichen Ziele?

Meloni: An erster Stelle steht für mich Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Unsere Arbeit sieht fast so aus wie im Charly-Chaplin-Film „Modern Times“. Wir Lagerarbeiter:innen machen jede Stunde aberhunderte Male dieselben Bewegungen. Aber wir sind Menschen, keine Roboter. Diejenigen von uns, die schon zehn Jahre hier arbeiten, haben mittlerweile eine kaputte Schulter, ein kaputtes Bein oder einen kaputten Rücken. Zum einen müssen wir deshalb versuchen, die Arbeitszeit von 40 auf 32 Stunden zu reduzieren – natürlich bei gleichem Lohn. Und wir müssen Arbeitsrotation einführen, damit wir unsere Körper nicht immer auf dieselbe Art belasten.

Wie leicht bzw. schwer ist es, für einen Marktgiganten wie Amazon Gewerkschaftsarbeit zu machen?

Agnieszka Mróz: Die Beziehung zwischen uns Arbeitnehmer:innen- bzw. Gewerkschaftsvertreter:innen und Amazon ist seit Jahren schwierig. Amazon behindert und beschränkt Gewerkschaftsaktivitäten – nicht nur in Polen. Ein Beispiel: Nach dem Tod eines Arbeiters in unserem Lager in Posen wurde meine Kollegin Maria Malinowska trotz Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer:innenvertreter:innen gekündigt. Da sie als Arbeitnehmer:innenvertreterin für Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmenden zuständig war, hatte sie sich dem Untersuchungsteam anschließen wollen. Amazon behauptete fälschlicher- und absurderweise, die Kollegin hätte den toten Körper des Arbeiters fotografiert. Damit wollten sie ein aktives Gewerkschaftsmitglied loswerden. Heuer, nach mehr als zwei Jahren Gerichtsprozessen, hat das Arbeitsgericht bestätigt, dass die Kündigung unrechtmäßig war und Amazon negativ und voreingenommen gegenüber Gewerkschaften eingestellt ist. Das ist nur eines von vielen Beispielen.

Portrait Agnieszka Mróz vom Amazon Betriebsrat im Interview über Lobbyismus.
Agnieszka Mróz hat als Amazon Betriebsrat viel Problematisches erlebt. Sie arbeitet als Lagermitarbeiterin im polnischen Posen und ist stellvertretende Vorsitzende des Europäischen Betriebsrats. | © Adam Jastrzebowski
Bitte nennen Sie noch ein Beispiel, das Ihnen als besonders wichtig erscheint.

Mróz: Damit wir in Polen das Recht zu streiken haben, müssen die Hälfte aller Mitarbeiter:innen eines Unternehmens dem Streik zustimmen – im Fall von Amazon sind das aufgrund des restriktiven polnischen Streik-Gesetzes die Hälfte von mehr als zehn Lagern im ganzen Land. In Polen arbeiten zirka 20.000 Menschen bei Amazon, was bedeutet, dass wir, um einen Streik durchführen zu dürfen, 10.000 Zustimmungen bräuchten. Wir haben also in mehreren Amazon-Werken Unterschriften gesammelt, um einen Streik zu ermöglichen. Aber als wir 5.000 Unterschriften beisammen hatten, hat uns Amazon den Zutritt zu weiteren Lagern verweigert. Wir haben damals die Polizei und Politiker:innen angerufen, aber wir durften trotzdem keine Unterschriften mehr sammeln. Hinter solchen Aktivitäten steckt meiner Meinung nach die Absicht, Gewerkschaftsmitglieder abzuschrecken und einzuschüchtern und natürlich uns mithilfe legaler Mittel, wie es sie in Polen und anderen osteuropäischen Ländern gibt, vom Streiken abzuhalten. Bei Amazon freut man sich, dass Arbeiter:innen hier nicht dieselben Möglichkeiten zu streiken haben wie im Westen. Wir brauchen beim Streikrecht dringend einen europäischen Standard.

Im Februar hat das Europäische Parlament 14 Amazon-Lobbyist:innen die Zutrittsbadges entzogen. Der Grund: Man hatte schon öfter Amazon-Vertreter:innen eingeladen, um mit ihnen über die Arbeitsbedingungen zu sprechen, aber Amazon schickte nie jemanden. Wie wichtig ist dieses Signal aus ihrer Sicht?

Meloni: Dass das Europäische Parlament nicht mehr mit den Amazon-Lobbyisten spricht, habe ich nicht erwartet, aber ich bin froh darüber. Das ist ein Anfang – ein guter Anfang.

Mróz: Vielleicht ist es ein erster Schritt, aber sicher nicht mehr als das. Wir brauchen europäische Regulierungen, um die Ausbeutung der Arbeiter:innen zu bekämpfen. Amazon nutzt strategisch die unterschiedlichen Rechtslagen in verschiedenen Ländern aus, zum Beispiel zwischen Polen und Deutschland. Amazon ist das reichste Unternehmen der Welt und es gibt keinen Grund, warum polnische Arbeiter:innen nur ein Viertel von dem verdienen, was deutsche Arbeiter:innen bekommen.

Wie viel verdienen polnische Amazon-Arbeiter:innen?

Mróz: Ein:e Level-1-Arbeiter:in wie ich verdient in Polen 26 Zloty pro Stunde vor Steuern – das sind ungefähr sechs Euro. Arbeiter:innen in Deutschland haben auch viele andere Vorteile gegenüber polnischen. Zum Beispiel bei den Urlaubsregelungen. Wir machen genau dieselbe Arbeit und tragen genauso viel zum Reichtum von Amazon bei – und paradoxerweise arbeiten die polnischen Arbeiter:innen vor allem, um den deutschen Markt zu beliefern. Amazon arbeitet über nationale Grenzen hinweg und das sollte auch für die Arbeiter:innen gelten. Wir sollten also nicht mit anderen Ländern konkurrieren, sondern gemeinsame Forderungen stellen. Das Europäische Parlament könnte dabei nützlich sein.

Durch die Sache mit den Lobbyist:innen scheint Amazon folgende Botschaft an das Europäische Parlament zu senden: Wir möchten jederzeit mit euch über unsere Interessen sprechen, aber wir stehen nicht zur Verfügung, wenn ihr mit uns über Arbeitsbedingungen sprechen wollt.

Meloni: Mit Amazon ist es immer eine Ein-Weg-Kommunikation und sie manipulieren dich immer. Ich arbeite in Piacenza, einer sehr kleinen Stadt, und Amazon macht hier dasselbe wie auf nationaler, europäischer und natürlich auf globaler Ebene. Sie lächeln und sagen ‚Was möchtet ihr?‘ Wenn wir dann versuchen, mit ihnen zu sprechen, sagen sie: ‚Nein, das geht nicht, das ist unmöglich, vielleicht später, vielleicht in drei Monaten, vielleicht nächstes Jahr.‘ Sobald wir einer Lösung nahekommen, ändern sie das Management und die neuen Leute sagen dann: ‚Wir brauchen erstmal Zeit, um die Situation zu verstehen.‘ Es ist immer dasselbe. Momentan ist es unmöglich, gegen Amazon zu gewinnen.

Europäischer Amazon Betriebsrat Gianpaolo-Meloni bei einer Rede.
„Wir sprechen hier über ein Monopol. Wer über E-Commerce spricht, meint Amazon“, stellt Gianpaolo Meloni die Marktmacht seines Arbeitgebers klar. Entsprechend schwer seien Verhandlungen. | © Uni Global Union, Amazon Alliance and Make Amazon Pay
Denken Sie, dass es jetzt doch möglich werden könnte, gegen Amazon zu gewinnen angesichts dessen, was im Europäischen Parlament passiert ist?

Mróz: Ich glaube nicht. Amazon wendet auf europäischer Ebene exakt dieselbe Strategie an wie mit den Arbeiter:innen: Sie wollen nur eins zu eins über Probleme sprechen – du und der:die Manager:in oder du und die Personalabteilung. Sie sind nicht zur öffentlichen Anhörung der EU im Jänner gekommen, aber sie sprechen individuell mit Parlamentarier:innen. Sie akzeptieren die kollektive Arbeiter:innen-Stimme nicht. Aber als einzelne:r Arbeiter:in ist man ebenso wie als einzelne:r europäische:r Bürger:in in einer schwächeren Position gegenüber so großen Konzernen. Wir brauchen auf beiden Ebenen kollektive Stimmen, um ein Gleichgewicht und eine bessere Welt zu erreichen.

Herr Meloni, wenn Sie sagen, es sei derzeit unmöglich gegen Amazon zu gewinnen, meinen Sie das nur in Bezug auf die Gewerkschaftsarbeit oder auch auf übergeordneter Ebene?

Meloni: Wir sprechen hier über ein Monopol. Wer über E-Commerce spricht, meint Amazon. Wenn es kein Gleichgewicht gibt, ist es unmöglich für andere Unternehmen, sich am Markt zu behaupten. Gegen Amazon verlierst du zu 100 Prozent. Du kannst nicht gewinnen. Und wenn Amazon etwas macht, dann machen es Unternehmen immer nach – auf eine schlechte Art. Zum Beispiel hat Amazon als erstes eine billige Flatrate für Prime eingeführt – und die anderen sind gefolgt. Und ich glaube auch, dass Amazon ein soziales Problem ist. Wir kaufen, ohne nachzudenken. Was zum Teufel machen die Menschen da? Sie kaufen einen Kugelschreiber um 50 Cent und Amazon stellt ihn am nächsten Tag zu. Am meisten Sorgen mache ich mir aber über die Zukunft unserer Jobs – übrigens nicht nur bei Amazon, sondern allgemein.

Was genau macht Ihnen Sorgen?

Meloni: Ich bin sehr besorgt, wie viele Menschen in zehn Jahren noch für Unternehmen wie Amazon arbeiten werden. Roboter können unsere Arbeit schneller machen. In Italien werden schon Drohnen für die Zustellung verwendet. Sogar Amazon-Autor:innen haben gestreikt, weil sie verstanden haben, wie bedrohlich neue Technologien wie ChatGPT für ihre Jobs sind. Ich bin sehr erstaunt, dass die Politiker:innen und die Gewerkschaften nicht darüber sprechen – das müsste eigentlich der erste und wichtigste Punkt auf der Agenda sein.

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Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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