Er: „Hast du deine Strom- und Gasvorschreibung schon bekommen?“
Sie nickt und sieht zu ihrem nebenan schlafenden Kind hinüber.
Er: „Und?“
Sie verzieht das Gesicht und sagt ratlos: „Hat sich verdoppelt! Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“
Kein Mensch hat früher mit Freund:innen oder Angehörigen über die Strom- und Gasrechnung gesprochen. Doch mittlerweile ist das Thema sogar an Österreichs Stammtischen so salonfähig wie das Wetter. Vor dem Hintergrund einer Energiekrise mit aus den Fugen geratener Energiemärkte samt irren Preissteigerungen – bei gleichzeitigem Reallohnverlust – fragen sich die Menschen in Österreich, wie sie mit diesen zusätzlichen Belastungen durch den Herbst und Winter kommen sollen.
Energiekosten: Turbo-Teuerung belastet Menschen schwer
Explodierende Preise an den Energiebörsen sorgen dafür, dass die Preiserhöhungen in durchschnittlichen österreichischen Haushalten laut Kurier für Energieallianz-Kund:innen mit rund 2.000 Euro zu Buche schlagen. Eine Turboteuerung dieser Größenordnung trifft alle hart, aber ganz besonders jene, die schon vorher Probleme hatten, ihre Wohnungen einigermaßen warm zu halten – sogenannte energiearme Haushalte. Dazu zählen Haushalte, deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle liegen und die zugleich überdurchschnittlich hohe Energiekosten tragen müssen. Das sind größere Haushalte mit Kindern, wo täglich gekocht, gewaschen und geduscht werden muss. Rund 140.000 Haushalte in Österreich galten zuletzt als energiearm – und es werden mehr werden. Im Schnitt kommen auf sie laut Momentum Institut rund 490 Euro pro Haushalt an zusätzlichen Energiekosten zu.
Unterdessen melden Energieversorger im Spätsommer, dass die Anfragen wegen Zahlungsproblemen stark gestiegen sind. Das zeigt, dass Energie kein Gut wie jedes andere ist. Sie ist wesentliche Grundlage unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Und nicht nur die Privathaushalte können die Gas- und Stromrechnung nicht mehr stemmen. Auch Unternehmen schlagen Alarm. Harald Mahrer, Präsident der Wirtschaftskammer (WKÖ), spricht von einem „Aufschrei der Unternehmen, lauter als in Covid-Zeiten“. Und weiter: „Egal, ob Klein- oder Großbetrieb: Die Vervielfachung der Energiekosten ist existenzgefährdend. Es geht ums wirtschaftliche Überleben und um viele Jobs“, sagt der WKÖ-Chef.
Einfach zauderhaft
Während Politiker:innen anderer Staaten wie etwa in Spanien und Portugal seit dem Frühjahr gegen die hohe Inflation aktiv sind, um ihre Bevölkerung durch einen Gaspreisdeckel (Entkoppelung des Gasmarktes vom Strommarkt) vor steigenden Strompreisen und den dramatischen Folgen der Geldentwertung zu bewahren, wollte Bundeskanzler Karl Nehammer lange nichts von Eingriffen in den Markt wissen.
Erst Ende August vollzog der Kanzler eine unerwartete verbale Kehrtwende, nachdem Gewerkschaften, Arbeiterkammer, Opposition und Ökonom:innen monatelang von ihm einen Strompreisdeckel gefordert hatten. „Wir müssen diesen Irrsinn, der sich derzeit auf den Energiemärkten abspielt, endlich stoppen“, sagte er schließlich. Und: „Der Markt wird sich in der derzeitigen Form nicht von selbst reduzieren. Daher muss der Strompreis vom Gaspreis entkoppelt werden.“ Im Klartext ist das ein „Ja“ zu Markteingriffen auf Großhandelsebene. Jetzt müssen am 9. September beim Treffen der EU-Energieminister:innen in Prag nur Nägel mit Köpfen gemacht werden. „Denn der Markt muss endlich an die Leine“, so Dorothea Herzele, Energieexpertin in der Arbeiterkammer Wien (AK). Und sie ergänzt: „Wenn wir es nicht schaffen, dass sich die Menschen Energie leisten können, besteht die Gefahr, dass im Winter viele Wohnungen kalt bleiben.“
Energiekosten: Falsch gepolter Strommarkt
Gas ist teuer. Aber was hat das mit dem teuer gewordenen Strom zu tun? Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat ein wahres energie- und wirtschaftspolitisches Beben nach sich gezogen. Grund dafür ist das sogenannte Merit-Order-System an den Energiebörsen. Diese Regel gibt derzeit die Einsatzreihenfolge der Stromproduzenten vor. Alles richtet sich bei diesem Marktmodell nach der Wirtschaftlichkeit. Das heißt: Zuerst werden günstige Energieerzeugungsformen wie Wasserkraft oder Windstrom ans Netz genommen. Je mehr der Bedarf steigt, desto mehr Kraftwerke müssen Strom liefern. Am Schluss liefern die teuersten den Strom. Und letztlich bestimmen die Kosten des jeweils teuersten noch notwendigen Kraftwerks, um die Nachfrage zu decken, den Marktpreis für Strom, den dann alle Produzenten für ihren Strom bekommen – egal, ob sie diesen mit günstiger Wasserkraft, günstiger Photovoltaik, günstiger Windkraft, günstigem Öl oder teurer Kohle und teurem Gas erzeugt haben.
Seit Monaten wird die aktuelle Marktsystematik infrage gestellt. Neben dem teuren Gaspreis gibt es etliche weitere Gründe für den Höhenflug auf den Märkten:
- Etwa die Hälfte der französischen Atomkraftwerke neuerer Bauart ist im Sommer vom Netz gegangen, weil die Schweißnähte der Reaktoren überprüft werden müssen.
- Die Flüsse in Europa führen aufgrund der monatelangen Trockenheit weniger Wasser als sonst und liefern daher auch weniger Strom. Dadurch wird derzeit um etwa ein Drittel weniger Strom aus Wasserkraft produziert als in einem „normalen“ Jahr.
- Aufgrund des Niedrigwassers gelangt Kohle schwieriger zu Kraftwerken und Industriekunden.
- Händler auf den Märkten zocken und befeuern die Medien mit Gerüchten: „Nord Stream 1 wird für drei Tage stillgelegt. Wird Gas danach wieder fließen?“ Das erzeugt bisweilen Hysterie, die auch den Preis treibt.
Versorger unter Kaufzwang
Die Märkte leben aber nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft. Energieversorger, die ihre Kund:innen im kommenden Winter zuverlässig versorgen wollen und sich dafür jetzt absichern, müssen jetzt, wo Händler die Preise nach oben treiben und die Märkte verrücktspielen, besonders tief in die Tasche greifen, um nach den Regeln der Börse zu tanzen. Nachdem Händler den Strompreis an der Leipziger Strombörse EEX zuletzt am 26. August bei niedrigen Handelsvolumina von knapp 800 Euro/MWh auf knapp 1.000 Euro/MWh getrieben hatten, setzten die Verantwortlichen nicht etwa den Handel an der Börse aus. Im Gegenteil: Die Börsengeschäftsführung erklärte zwei Tage später in einer Aussendung, „dass ein temporärer Stopp des Marktes nicht erforderlich“ gewesen sei.
Ausreden zu ambitionierten #Klimaschutz gibt es viele. Zwei #Experten – Umweltpsychologe Thomas Brudermann @unigraz und Klimaökonom Joel Tölgyes @mom_inst beleuchten vier im Detail und erklären, wie wir aus diesen Ausreden herauskommen. https://t.co/9b5Urzhgjx
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) September 28, 2022
In diesem Zusammenhang stellt Herzele klar: „Die Leipziger Börse EEX sollte dringend überprüft werden. Finanzakteure sollten nicht an dieser Börse teilnehmen dürfen.“ Denn durch sie bestehe die Gefahr, dass sie durch ihre Geschäftspolitik die Preise noch stärker anheizen. „Nur jene, die nachweislich ein Handelsinteresse haben, sollen zum Handel an Energiebörsen zugelassen werden“, fordert sie. Das betrifft sowohl Strom- als auch Gasbörsen.
Hersteller von erneuerbarer Energie wie die halbstaatliche Verbund AG, aber auch private Betreiber von Wind- und Solarparks, Verkäufer von Holz und Pellets sowie Unternehmen, die wie die OMV Öl und Gas verkaufen, erzielen gerade enorme Verkaufspreise und damit „sogenannte krisenbedingte Zufallsgewinne“, wie Dorothea Herzele es nennt. Die hohen Energiepreise werden auf die Konsument:innen überwälzt. Die müssen nun viel mehr für Energie bezahlen müssen, weil die Strom-, Gas- und Fernwärmekosten gestiegen sind. Fernwärme zum Beispiel wird heuer in der Steiermark nach zwei Preiserhöhungen um insgesamt 94 Prozent teurer und in Wien ab 1. Oktober um 92 Prozent.
Knappes Erdgas
In der aktuellen Situation sind Leistbarkeit und Nachhaltigkeit des energiepolitischen Dreiecks außer Tritt, und sogar die Versorgungssicherheit ist bedroht. „Geschuldet ist das dem knapper werdenden Erdgas in Europa, weil Russland den Gashahn mehr und mehr zudreht“, erklärt Herzele. Zuletzt hatte der russische Gasanbieter Gazprom deutlich weniger Gas nach Europa geliefert. Die gute Nachricht: Die heimischen Gasspeicher waren Anfang September zu zwei Dritteln voll.
Um weiteres Gas nach Österreich zu bringen, hat die Gas Connect Austria rund 40 Terawatt an Leitungskapazitäten ersteigert, damit die Leitungen für zusätzliches Gas aus der Nordsee offen sind. Damit das passiert, hat die Bundesregierung eine Förderung in der Größenordnung von 100 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Bezahlt werde aber nur dann, wenn das Gas auch wirklich physisch in Österreich ankommt. Ob auch jenes Gas, über das die Bundesregierung im Frühjahr 2022 in den Vereinigten Arabischen Emiraten medienwirksame Verhandlungen führte, jemals physisch nach Österreich kommen wird, zweifeln Branchenkenner:innen an.
Der Grundbedarf an Heizenergie muss
günstig zur Verfügung stehen und möglichst klimafreundlich bereitgestellt werden.
Joel Tölgyes, Umweltökonom im Momentum Institut
Energiekosten: Wege aus der Misere
Hoffnungsschimmer ist nun, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang des kommenden Jahres eine langfristige Reform des Strommarktes in der EU einleiten will. Um eine Entlastung herbeizuführen, ist die Rede davon, dass das iberische Modell für die Preisdämpfung herangezogen werden soll.
Auch auf nationaler Ebene sei laut Herzele ein Energiepreis-Deckel wünschenswert, wie ihn der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) vorgelegt hat. Dabei solle Haushalten Strom zu einem vergünstigten Preis angeboten werden: So soll der Grundbedarf für alle Haushalte preislich gedeckelt werden. Ein Haushalt bezahlt dabei einen regulierten, niedrigeren Preis für ein bestimmtes Volumen an Energie, die fürs Kochen, Duschen oder Wäschewaschen gebraucht wird. Wer mehr Strom verbraucht, weil etwa ein Pool beheizt wird oder der Fernseher die ganze Nacht durchläuft, zahlt für diesen Mehrverbrauch den normalen, höheren Marktpreis. Dieser Preisdeckel sollte auch auf Gas und Fernwärme erweitert werden.
Joel Tölgyes, Umweltökonom beim Momentum Institut, meint, dass „der Grundbedarf an Heizenergie günstig zur Verfügung stehen sollte. Und obendrein sollte er möglichst klimafreundlich bereitgestellt werden sollte – etwa über erneuerbare Fernwärme“. Wer jedoch seinen Pool heize, sollte dafür zur Kasse gebeten werden. Die Zeit der Ausreden für Klimasünden ist angesichts der (auch gesellschaftlichen) Kosten vorbei.
Für Einkommensschwache schlägt die AK noch einen Energiepreisdeckel plus vor. Dabei sollen Menschen, die von der GIS befreit sind, weiter entlastet werden. Bezahlt werden sollen die Strompreisdeckel durch eine Abschöpfung der Übergewinne der Energiepreisgewinnler – „also durch eine Steuer“, sagt Herzele. Die Bundesregierung hat angekündigt, Anfang September ein Modell einer Strompreisbremse vorzustellen, die dem ÖGB-Modell ähnlich sein soll. Wir werden sehen.
Was hilft jetzt?
Anbieterwechsel sind momentan eine schlechte Idee. Denn wer seinen Strom- oder Gasanbieter wechselt oder wechseln muss, kann damit rechnen, dass sein neuer Vertrag, wie Herzele sagt, „nur noch an börsenorientierte Tarife gekoppelt ist. Da kann es zu enormen monatlichen Preisschwankungen kommen.“ Aber was können Konsument:innen in dieser scheinbar ausweglosen Situation machen? Tölgyes rät Verbraucher:innen dazu, „auf Konsumentenschützer:innen oder Energiemarktexpert:innen zu hören und wenn möglich auf Preisbindungen zu setzen“. Und Dorothea Herzele sagt: „Wir von der AK haben für die Haushalte durchgesetzt, dass Konsument:innen im Falle von hohen Nachzahlungen ein Recht auf Ratenzahlung von bis zu 18 Monaten haben.“