Viele Faktoren spielen in das Thema „Energiearmut“ hinein. Im Fall von Jacqueline Steiner wurde die Krise nicht ausschließlich durch eskalierende Kosten ausgelöst. Ein großer Teil der Schuld liegt bei ihrem früheren Arbeitgeber, bei dem sie bis Dezember 2021 angestellt war. Seitdem ist sie arbeitslos. „Ich habe dort nie einen Cent Lohn gesehen“, erzählt sie. „Nach zwei Wochen habe ich erfahren, dass die Firma Konkurs angemeldet hat. Eines Tages sind bewaffnete Polizist:innen aufgetaucht. Die haben dort alles mitgenommen.“ Vier Monate lang bekam Jacqueline Steiner keinen Lohn. Das bedeutet, sie konnte keine Miete zahlen und ihrer Tochter keine Schulsachen kaufen. Bei der Caritas holte sie Gutscheine für das Essen. „Ich habe mir die Frage gestellt: Wie überleben wir überhaupt? Ich habe nur noch geheult.“
Inflation erhöht Energiearmut
In dieser Situation bilden die steigenden Energiekosten ein sich drastisch verschärfendes Element. „Ich kann mich noch erinnern, dass ich vor zehn Jahren noch 50 Euro monatlich für Strom und Gas gemeinsam gezahlt habe. Allerdings hatte ich schon 2011 eine Nachzahlung von 2.000 Euro in der Jahresendabrechnung. Und jetzt zahle ich im Quartal 440 Euro. Das ist alle drei Monate die doppelte Miete. Und immer wieder Nachzahlungen.“ Das Jahr 2022 ist zwar noch jung, und doch fürchtet sich Jacqueline Steiner schon vor dem Jahresende: „Ich habe einen Brief bekommen, dass die Preise verdoppelt werden„, berichtet er Arbeit&wirtschaft.
Diese Angst spürt auch der Wiener Musiker Wolfgang Linhart. Sein Einkommen generiert sich großteils aus Live-Konzerten. Dieser Markt ist mit Beginn der Corona-Krise drastisch eingebrochen. „Der Großteil meiner Konzerte wurde abgesagt. Ich habe eine Big Band mit 18 Mitgliedern. Niemand will jetzt eine Big Band in einem Innenraum anschauen. Selbst dort, wo wieder Konzerte stattfinden, fehlt das Publikum.“
Nur 250 Euro zum Leben
Als Kulturschaffender konnte Linhart im Jahr 2021 auf staatliche Förderungen in Höhe von 950 Euro pro Monat zurückgreifen. „Ohne diese Förderungen wäre es nicht gegangen“, sagt Linhart, der sich ohnehin eingeschränkt hat. Ein großes Tonstudio am Stadtrand hat er aufgegeben, nun produziert er in einem kleineren Studio in der Josefstadt. Auch einen Job in der Gastronomie hat er angenommen: „Aber die leidet auch, wegen ausbleibender Kundschaft, aber auch durch steigende Kosten.“ Preise, die auch Wolfgang Linhart spürt: „Ich habe Miet- und Energiekosten in Höhe von 600 bis 700 Euro im Monat. Da bleiben mir 250 Euro im Monat zum Leben übrig. Ich hatte noch ein finanzielles Polster aus vergangenen Produktionen, das habe ich nun aber aufgebraucht. Und ich bin mir wirklich nicht sicher, was bei der Jahresendabrechnung passiert.“
Diese Befürchtungen teilt Sandra Matzinger, Energiereferentin aus der Abteilung Wirtschaftspolitik in der Arbeiterkammer Wien. „Wir haben einen Fahrstuhleffekt, die Preise rauschen rauf“, sagt sie. Zahlen belegen diesen Eindruck. So hat der österreichische Strompreisindex seit April 2021 um 163 Prozent zugelegt, während der Gaspreisindex seit März 2021 um 455 Prozent gestiegen ist. Energiearmut ist bei dieser Entwicklung längst keine Seltenheit mehr.
Energiearmut: Angst vor dem Herbst
„Die durch den Ukraine-Krieg verursachten Preissteigerungen sind jetzt noch nicht so spürbar für die Leute. Jetzt kommt auch die warme Jahreszeit. Aber meine große Sorge gilt dem Herbst. Das ist ein ganz großes Problem, wenn es mit der Nachfrage wieder losgeht. Dann werden die Preise drastisch ansteigen.“ Dies werde sich in den Jahresabrechnungen bemerkbar machen. „Die Leute schaffen es gerade noch so, die Teilleistungen zu bestreiten. Aber Nachzahlungen in Höhe von mehreren hundert Euro können sie kaum stemmen“, so Matzinger.
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Und noch etwas wird durch die obigen Beispiele deutlich. Energiearmut hat keine eindimensionalen Ursachen. Darauf weist Rudolf Lehner, Referent für energiepolitische Fragestellungen bei der AK Oberösterreich, hin. In einem neuen Artikel für den A&W-Blog schreibt er: „In den allermeisten Fällen wird Armut durch mehrere Komponenten verursacht. Ein ebenso großes Problem wie die Energiekosten sind in diesem Zusammenhang die Wohnungskosten, also vor allem die Mieten.“
Wegen der kaputten Fenster wird den Kindern kalt
Noch deutlicher werden die Wirtschaftswissenschafter Michael Ertl und Markus Marterbauer. Mit Blick auf die vom WIFO für das Jahr 2022 prognostizierte Inflationsrate von 5,8 Prozent schreiben sie an selber Stelle: „Der verheerende russische Krieg gegen die Ukraine führt zu drastisch steigenden Energiepreisen, die die verfügbaren Einkommen und damit die Konsumnachfrage schwächen. (…) Der Anstieg der Preise für Strom, Gas und Treibstoffe schwächt die Kaufkraft der privaten Haushalte und trifft ärmere Haushalte besonders stark.“ Wobei der Strompreis aufgrund der Merit-Order stark vom Gaspreis abhängt.
Wolfgang Linhart und Jacqueline Steiner können davon ein Lied singen. Sie versuchen ihrer Notlage mit Einschränkungen zu begegnen. „Glücklicherweise war die vergangenen Jahre meistens Lockdown“, meint der Musiker Linhart. „Ich hätte sowieso nicht ausgehen können. Das hat etwas getröstet, wenn ich Geld gespart habe.“ Jacqueline Steiner versucht derweil, den Gasofen oder die Heizung möglichst überhaupt nicht zu benützen. „Ich bin kaum daheim, dann brauche ich nicht zu kochen. Wenn das Wetter schön ist, sind wir mit den Kindern am Spielplatz. Wenn ich daheim bin, versuche ich außerdem Strom zu sparen. Ich habe das Licht abgedreht. Meistens brauche ich es eh nicht. Meine Wohnung ist hell.“ Problematisch sei aber, dass die Fenster in ihrem Gemeindebau teilweise kaputt seien. „Dann wird den Kindern kalt.“
Energiearmut kommt häufig vor
Lea Laubenthal ist Teamleiterin bei der Sozialberatung der Caritas Wien. Beispiele wie jenes von Jacqueline Steiner kennt sie viele. „Die Anfragen steigen. Das liegt an den Auswirkungen der COVID-Pandemie, aber auch daran, dass die Energiepreise steigen. Die drei häufigsten Anfragen bei uns betreffen die Miete, den Lebensbedarf und den Strom.“ Problematisch sei, dass viele Betroffene in schlecht gedämmten Wohnungen leben würden. „Dadurch steigt natürlich der Energiebedarf beim Heizen. Manche versuchen auszuweichen, indem sie elektrische Heizstrahler anschaffen. Dadurch sinkt der Gasverbrauch, aber der Stromverbrauch steigt.“
Auch Lea Laubenthal sorgt sich vor dem Herbst. „Dann trudeln hier besonders viele Leute ein. Und die geopolitische Lage wird einen verschärfenden Effekt auf die Energiepreise haben. Es ist ein großes Problem, dass die Mindestsicherung gleich bleibt, aber die Kosten steigen. Das geht sich nicht aus.“
Recht auf Grundversorgung
Viele Menschen würden die Sozialberatung aufsuchen, wenn ihnen der Energieversorger Strom und Gas abgedreht hat. „Dabei gibt es in Österreich ein Recht auf Grundversorgung. Das weiß aber kaum jemand. Es wird auch völlig unzureichend kommuniziert. Außerdem muss erst umständlich ein Formular ausgefüllt werden, um in die Grundversorgung zu kommen.
Wir fordern, dass das automatisch passiert.“ Tatsächlich sind österreichische Energieversorger einem sogenannten Kontrahierungszwang unterworfen. Das bedeutet, sie haben eine Pflicht zum Vertragsabschluss. Energieversorger dürfen Strom und Gas abschalten, wenn der Kunde seine Rechnung nicht bezahlt. Jedoch können Verbraucher:innen die Wiederanschaltung erwirken, wenn sie sich bei ihrem Versorger auf die Grundversorgung berufen. Dafür müssen sie aber einen Teilbetrag im Voraus überweisen. „Hier versuchen wir bei der Caritas zu helfen“, so Laubenthal.
Durch die hohen Energiekosten stieg auch die Energiearmut. Viele Menschen können sich Strom, Gas & Co. nicht mehr leisten und müssen ihr Leben dadurch intensiv eingeschränkt führen. Mehr zum Thema: https://t.co/z5ZO2N7wHS pic.twitter.com/mFjG9uuCpr
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) March 9, 2022
Mit Konzernprofiten gegen Energiearmut
Insgesamt 128.000 Haushalte waren es, die sich im vergangenen Winter das Heizen ihrer Wohnungen gar nicht oder nur selten leisten konnten. Der ÖGB hat deshalb die Forderung nach einem Winterpaket ins Spiel gebracht. Dessen Eckpunkte beinhalteten eine zeitlich begrenzte Preissenkung auf Strom und Gas für alle Haushalte, einen Abschaltestopp der Energieanbieter sowie einen Finanzzuschuss für die 400.000 finanzschwächsten Haushalte in Höhe von 120 Millionen Euro.
„Zur Finanzierung könnte man auch die durch die Krise entstandenen Sonderprofite der Energiekonzerne heranziehen“, meint Sandra Matzinger. „Vor allem Unternehmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien profitieren von den Preissteigerungen, da sie keine steigenden Kosten haben, aber dennoch zu Marktpreisen verkaufen. Hier könnte der Staat eingreifen.“
Preise runter – weg vom Gas
Nötig sei es auch, den Markt genauer zu beobachten. „Der hat im letzten Sommer nicht so funktioniert wie normal“, sagt Sandra Matzinger. „Der Gazprom-Konzern hat viel weniger eingespeist als eigentlich üblich. Zwar hat der Konzern seine langfristigen Verträge alle eingehalten, an den Spot-Märkten, an denen kurzfristige Geschäfte abgewickelt werden, aber nichts verkauft.“ In diesem Zusammenhang setzt sich die Arbeiterkammer für eine engmaschige Überwachung der Energiemärkte ein, auch um preissteigernde Spekulationseffekte besser überwachen zu können.
Das Thema brennt jedenfalls vielen Menschen unter den Nägeln. Schon knapp unter 25.000 Menschen haben eine Online-Petition des ÖGB mit der Forderung „Preise runter!“ unterschrieben. Dort wird unter anderem gefordert, die Preise für Energie und Treibstoff zu senken und die Mehrwertsteuer auf Öffi-Zeitkarten zu streichen. Stattdessen kommt von der österreichischen Bundesregierung nicht viel Konkretes.
Das Energiepaket reicht nicht aus
„Das neue Energiepaket der Bundesregierung bewegt sich großteils auf Überschriftenniveau“, bemängelt Martin Reiter, Fachexperte im Volkswirtschaftlichen Referat des ÖGB. Kritisch sieht er, dass die Expertise der Arbeitnehmer:innenorganisationen nicht in Anspruch genommen werde. „Wir würden uns gerne mit unseren Vorschlägen einbringen, doch das geht nur, wenn wir als ÖGB dazu die Möglichkeit kriegen.“ Das scheint bislang nicht der Fall zu sein, der letzte Energiegipfel fand zwar mit Beteiligung der Energiekonzerne, aber ohne AK oder Gewerkschaften statt.
Jacqueline Steiner hat jedenfalls genug vom Gas. Und das nicht nur, wenn es um die Heizkosten geht: „Die Wartung der Gastherme kostet ja auch Geld. Aber ich weiß gar nicht, wie viele in meinem Gemeindebau sich das überhaupt leisten können. Dabei ist die Wartung ja wichtig. Immer wieder liest man von Explosionen. Auch das macht mir Angst. Eigentlich gehören die Thermen alle ausgetauscht.“ Wolfgang Linhart hofft derweil auf den Sommer: „Im April habe ich wieder einen Auftritt. Hoffentlich kann ich bald wieder mehr verdienen, um meine Rechnungen zahlen zu können.