Emanzipation statt Marktwert

Fotos (C) Michael Mazohl, Konzept & Produktion: Thomas Jarmer
Bildung ist Motor gesellschaftlicher Veränderungen. Statt Menschen der wirtschaftlichen Verwertbarkeit unterzuordnen, brauchen wir frei machende Bildung.
Bis heute stehen einander im Bildungsdiskurs zwei völlig konträre Bildungsbegriffe gegenüber. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire brachte es in seinem Werk „Pädagogik der Unterdrückten – Bildung als Praxis der Freiheit“ auf den Punkt: „Erziehung kann niemals neutral sein – entweder ist sie Instrument zur Befreiung des Menschen oder Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung.“

Bildung bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerstand.

Bildung bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerstand. Auf der einen Seite steht die bestmögliche Selbstpositionierung am Markt und auf der anderen Seite emanzipatorische Weiterentwicklung zu mündigen, kritisch denkenden Menschen. Noch deutlicher brachte es der deutsche Revolutionär Wilhelm Liebknecht vor rund 150 Jahren auf den Punkt: Schule könne sowohl das mächtigste Mittel der Befreiung, aber auch zugleich das mächtigste Mittel der Knechtung sein.

Bildung und soziale Verbesserungen

Zweifellos ist es den ArbeiterInnen im Laufe der vergangenen 150 Jahre gelungen, die Arbeits- und Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung massiv zu verbessern. Gerade die Bildung leistete dazu einen entscheidenden Beitrag – waren doch die Vorläufer der Gewerkschaften neu gegründete Bildungsvereine von und für ArbeiterInnen. Durch Bildung konnte der arbeitenden Klasse, den Lohnabhängigen, bewusst gemacht werden, dass die bestehenden Verhältnisse nicht unverrückbar sind, sondern verändert werden können. Dies wiederum war notwendige Voraussetzung für tatsächliche politische Veränderungen – von der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts bis hin zu sozialpolitischen Errungenschaften, wie geregelten Arbeitszeiten, Recht auf bezahlten Urlaub und vielem mehr.

Bildung war notwendige Voraussetzung für tatsächliche politische Veränderungen.

Bildung kann also ein Beitrag zur Befreiung des Menschen von Unterdrückung sein, indem sie hilft, vorgefundene Gegebenheiten eines Gesellschaftssystems als veränderbar zu begreifen, Machtstrukturen zu erkennen, Gegenmacht zu entwickeln und herrschaftsbedingte Zwänge aufzubrechen. Dies ermöglicht es auch, politische Handlungsfähigkeit zu erlangen und sich wirksam für eigene und kollektive Interessen einzusetzen.

Von der neoliberalen …

Der heute oft als neoliberal bezeichnete Bildungsbegriff setzt die Priorität vorwiegend auf die wirtschaftliche Verwertbarkeit junger Menschen. Sprach Liebknecht noch von der Anfertigung von „Lohnsklaven des Kapitals“ oder von „tauglichem Rohmaterial für die Kaserne“, so spricht man heute von der Schaffung von Humanressourcen für die Wirtschaft. Gefragt sind flexible MarktteilnehmerInnen, die sich den Bedingungen am Markt anpassen und möglichst früh die Regeln des harten Wettbewerbs verinnerlichen. Wer fit für die Arbeitswelt sein möchte, muss mit möglichst guter Performance in Konkurrenzsituationen bestehen, um nicht von anderen verdrängt zu werden.

Der heute oft als neoliberal bezeichnete Bildungsbegriff setzt die Priorität vorwiegend auf die wirtschaftliche Verwertbarkeit junger Menschen.

Junge Menschen sollen sich im immer schneller drehenden Hamsterrad unserer Leistungsgesellschaft abstrampeln, konkurrieren in permanenten Rankings und sammeln Zusatzqualifikationen, Soft Skills, ECTS-Punkte und Zertifikate. Sie optimieren ihre Lebensläufe und nehmen dafür unbezahlte Praktika, überlange Arbeitszeiten und prekäre Arbeitsbedingungen in Kauf. Permanente punktuelle Leistungsüberprüfungen erhöhen den Druck auf die SchülerInnen und führen letztlich zur Dominanz mechanischen Auswendiglernens vorgefertigter Lehrinhalte. Die Jugendlichen sollen sich diszipliniert sputen, denn schließlich braucht die Wirtschaft künftige Arbeitskräfte, die „funktionieren“.

… zur emanzipatorischen Bildung

Bildung muss jedoch mehr sein als die Verabreichung von verwertbarem Wissen, portioniert in 50-Minuten-Einheiten. Bildung, die befreien soll, fördert die Persönlichkeitsentwicklung, den Intellekt, die Kreativität, setzt auf Teamarbeit, Ressourcenorientierung und Förderung von Gesundheit und körperlicher Entwicklung. Entscheidende Eckpfeiler sind soziale Kompetenz, genauso wie kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe; und vor allem: Mitgestaltung, aktive Partizipation. Wo, wenn nicht in der Schule, soll und muss Demokratie erlernt und gelebt werden?

Wo, wenn nicht in der Schule, soll und muss Demokratie erlernt und gelebt werden?

Wollen wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, muss das Bildungssystem Menschen zu mündigen, demokratisch eigenständigen, kritisch denkenden Bürgerinnen und Bürgern machen. Anstelle des Vermittelns von Jahreszahlen und Fakten, Institutionenkunde und Ereigniswissen müssen SchülerInnen wissen, wie sie neues Wissen erwerben, verwerten, anwenden und mit aktuellen Phänomenen vergleichen können. Politische Sachverhalte sollten aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können. Statt sich einseitig und übermäßig auf die Defizite, Symptome und Probleme von SchülerInnen zu konzentrieren, sollte möglichst viel Raum sein für Förderung von Interessen und Stärken. Schließlich sind Interesse und Neugierde weitaus bessere Motivationsfaktoren als Angst vor schlechten Noten.

Frei machende Bildung …

… bedeutet selbstverständlich auch, dass wir in einer Gesellschaft der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und sozialen Ungleichheiten gezielte Fördermaßnahmen für Kinder mit schlechteren Startbedingungen brauchen. Bis heute ist der Bildungsweg eines Menschen in Österreich sehr stark von der „Geburtslotterie“ beeinflusst. Da sich kein Kind aussuchen kann, ob es in eine arme oder reiche Familie hineingeboren wird, muss die Bildungspolitik ausgleichend wirken. Die frühe Trennung nach der gemeinsamen Volksschule in Mittelschule und AHS führt zu einer Kluft, die sich im Laufe der weiteren Ausbildung noch verstärkt – und schlechte Ausgangsbedingungen einzementiert.

Zusätzlich entsteht ein riesiger Druck auf Kinder, Eltern und Lehrkräfte am Ende der Volksschule. Da unser Schulsystem nicht durchmischt, sondern aussortiert, sind Schulen mit völlig unterschiedlich hohen Herausforderungen konfrontiert. Dies sollte sich auch in der Schulfinanzierung niederschlagen, weshalb die AK das Modell einer Finanzierung nach dem sogenannten Chancen-Index vorgeschlagen hat.

Benachteiligungen ausgleichen heißt auch, ein Schulsystem zu schaffen, das private Nachhilfe überflüssig macht.

Benachteiligungen ausgleichen heißt auch, ein Schulsystem zu schaffen, das private Nachhilfe überflüssig macht. Dies gelingt am besten an Lernorten, in denen Freizeit und Lernzeit verschränkt sind. Im Unterschied zur herkömmlichen Schule (mit oder ohne Nachmittagsbetreuung) wechseln sich in einer ganztägigen Schule von 8 bis circa 16 Uhr Unterrichts-, Lern- und Freizeitphasen mehrmals ab. Statt dass Eltern abends nach der Arbeit noch mit den Kindern Mathematik lernen oder Vokabeln abprüfen müssen, könnten Hausübungen und Schularbeitsvorbereitungen unter professioneller pädagogischer Aufsicht in der Schule erledigt werden. Zudem bliebe Zeit für soziales Lernen, freizeitpädagogische Aktivitäten, Bewegung oder Projektunterricht.

Da frühkindliche Betreuung und Förderung tiefgreifende und langfristige Auswirkungen haben, die mit späteren Maßnahmen nicht erreicht werden können, ist gerade der Kindergarten als Bildungsort von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung – und eine fundamentale Säule eines „guten Lebens für alle“. Damit Kinder ihre Potenziale bestmöglich entfalten können, brauchen elementare Bildungseinrichtungen auch bestmögliche Rahmenbedingungen: kleinere Gruppen, ausreichend Unterstützungspersonal, eine bessere Entlohnung der ElementarpädagogInnen, die Möglichkeit der Supervision und muttersprachliche Angebote etc.

Wir brauchen Lernorte der Wertschätzung, des Humors, der Erfolgserlebnisse und des sozialen Lernens.

Generell gilt: Bildungseinrichtungen dürfen keine eingezäunten Anstalten sein, in denen isoliert von der Außenwelt vorgegebene Lehrinhalte verabreicht werden. Sie müssen offene Lebensorte sein, die an die Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen andocken und in die lokale Infrastruktur eingebettet sowie mit anderen Einrichtungen vernetzt sind. Was es nicht braucht, sind autoritäre Disziplinierungsanstalten, in denen jungen Menschen der „Ernst des Lebens“ eingebläut wird. Wir brauchen Lernorte der Wertschätzung, des Humors, der Erfolgserlebnisse und des sozialen Lernens.

Junge Menschen sind keine passiven Lernroboter, die statische Inhalte konsumieren. Sie sind auch kein stets nur nach Eigennutz agierender zweckrationaler „Homo oeconomicus“. Sie sind soziale Wesen, die aktiv mitbestimmen, ein Bewusstsein für ein solidarisches Miteinander entwickeln und Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft übernehmen lernen. In diese Richtung müssen wir Bildung weiterentwickeln!

Von
Boris Ginner
Abteilung Bildungspolitik der AK-Wien

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/19.

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