In Österreich müssen 850.000 Menschen mit einem Einkommen von unter 1.000 Euro pro Monat klarkommen. Gleichzeitig steigen die Preise. Getrieben von den explodierenden Energiekosten steigen die Mieten. Es droht eine Stagflation in Österreich. Dazu kommt, dass Wien seit Jahrzehnten wächst, der Wohnungsbau aber nicht im gleichen Ausmaß nachkommt. Das alles wird zu einer Belastungsprobe für Menschen. Das alles treibt Elisabeth Hammer im Interview die Sorgenfalten auf die Stirn. Die Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin ist Geschäftsführerin bei neunerhaus. Die Einrichtung versorgt obdachlose Menschen und versucht, ihnen langfristig eine Wohnung zu vermitteln. Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft geht sie auf die aktuelle Situation ein.
Neunerhaus: Elisabeth Hammer im Interview
Könnten Sie mir einen Überblick über die Entwicklung der Zahlen von obdach- und wohnungslosen Menschen in den letzten Jahren geben? Mich würde interessieren, wie es vor Corona aussah und wie es jetzt aussieht.
Das wüssten wir alle gerne. Die Datenlage im Bereich Obdach- und Wohnungslosigkeit ist grundsätzlich verbesserungswürdig. Das platzieren wir seit Jahren. Wir wissen, dass sich zeitversetzt nach jeder größeren Wirtschaftskrise die Zahlen von Obdach- und Wohnungslosigkeit erhöhen. Das Aktuellste, was wir diesbezüglich an belastbarem Datenmaterial haben, stammt aus der Zeit nach der Finanzkrise 2008. In den fünf Jahren danach ist die Zahl obdach- und wohnungsloser Menschen um ein Drittel gestiegen.
Haben Sie denn aktuelle Zahlen?
In den letzten zehn Jahren schwankt die Zahl von wohnungs- und obdachlosen Menschen in Österreich zwischen 20.000 und 24.500 Menschen. Von 2019 auf 2020 ist die Zahl der wohnungs- und obdachlosen Menschen gesunken – um rund 2.000 Personen. 2020 waren 19.912 Menschen in Österreich als obdach- und wohnungslos registriert. Aber die Erhebungsmethode ist, wie gesagt, verbesserungswürdig. Diejenigen, die prekär wohnen, weil sie beispielsweise keinen eigenen Mietvertrag haben und irgendwo mitwohnen, werden nicht berücksichtigt.
Warum ist die Zahl ausgerechnet in der Coronakrise gesunken?
Es gab einen Delogierungsstopp. Das ist die wesentliche Maßnahme. Dazu kommt eine veränderte Strategie der Wohnungslosenhilfe. Man hat stärker auf eine ambulante Unterstützung in den eigenen Wohnungen gesetzt. Das sind Leute, die naturgemäß nicht auf der Straße oder in Notquartieren wohnen. Das ist eine Verringerung, die wird aber langfristig nicht halten.
Diese Wohnungen, die Sie jetzt angesprochen haben, die werden auch durch neunerhaus vermittelt. Jetzt wird es für manche Wohnungen im Jahr 2022 bis zu drei Mieterhöhungen geben. Viele Vermieter:innen schöpfen ihr Recht auf Inflationsanpassungen voll aus. Wird diese Inflation zu mehr Obdachlosigkeit führen?
Definitiv befürchten wir einen Anstieg von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Das Thema leistbares Wohnen geriet schon vor der Pandemie unter Druck. Der Ukraine-Krieg und die Inflation verschärfen das Thema drastisch. Zwei Zahlen sind dabei besonders kritisch zu betrachten. Erstens erwarten rund 14 Prozent der Gesamtbevölkerung Zahlungsschwierigkeiten bei den Wohnkosten. Zweitens müssen rund 850.000 Menschen mit einem Einkommen von unter tausend Euro im Monat auskommen. Diese zwei Zahlen zusammengenommen weisen darauf hin, dass es keine Spielräume und keine Rücklagen mehr gibt, um diese Kostensteigerungen abdecken zu können.
Es ist nicht nur die Miete. Es geht auch um Energie und Lebensmittel.
Der Warenkorb der Menschen mit niedrigem Einkommen schaut ein bisschen anders aus als der von Personen aus der Mittel- und Oberschicht. Insofern müssen wir uns auch damit beschäftigen, dass die sozialen Folgen der Inflation ganz einfach ungleich verteilt sind. Menschen, die so niedrige Einkommen haben wie viele neunerhaus-Nutzer:innen, sind überproportional davon betroffen.
Eine Gesellschaft ohne #Wohnungslosigkeit ist möglich. Wie, das diskutiere ich in meinem neuen Buch. Es geht um leistbares #Wohnen, Strategien gegen #Wohnungslosigkeit & Innovationen von Sozialorganisationen. Ich freue mich auf Gespräche mit Leser*innen ▶️ https://t.co/gpk9Njf59z pic.twitter.com/3gMvER6dps
— Elisabeth Hammer (@EHam_neunerhaus) August 24, 2022
Zumal die Ausgaben getätigt werden müssen. Nicht zu essen oder nicht zu wohnen ist keine Alternative.
Das stimmt. Es kommen existenzielle Problemlagen auf uns zu. Wir sehen, dass in der Beratung Menschen zu uns kommen, die riesige Sorgen haben wegen der Preissteigerungen im Supermarkt. Der wöchentliche Einkauf fällt ihnen immer schwerer. Das Andere sind Menschen mit ihren Jahresabrechnungen für Gas und Strom. Die Welle, die wir erwarten, ist noch nicht ganz angekommen.
Elisabeth Hammer im Interview: Lösungen gegen die Obdachlosigkeit
Was sind denn aus Ihrer Sicht Maßnahmen, die in dieser Situation auch langfristig helfen?
Leistbares Wohnen ist für uns der Dreh- und Angelpunkt. Nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern strukturell. Mit der aktuellen Teuerung sieht die Gesamtgesellschaft, dass leistbares Wohnen ein Gamechanger für individuelle Biografien sein kann. Wohnen schafft ganz einfach Sicherheit. Mittlerweile ist aber die Sorge um das Wohnen breiter angekommen in der Gesellschaft.
Wie kann neunerhaus da helfen?
Was wir tagtäglich umsetzen, ist stark darauf bezogen, die Phase der Wohnungs- und Obdachlosigkeit so kurz wie möglich zu halten. Dafür braucht es eine Strategieänderung in den Unterstützungsstrukturen. Unser Konzept hat die Überschrift „Housing First“; Menschen sollen schnellstmöglich wieder in eine eigene Wohnung kommen. Mit einem eigenen Mietvertrag und allen Rechten und Pflichten, die der mit sich bringt.
Dafür braucht es preisgünstige Wohnungen.
Wir sind sehr engagiert, den Anteil an Housing First-Wohnungen wachsen zu lassen und akquirieren engagiert. Dafür kooperieren wir stark mit dem gemeinnützigen Wohnbau und vermitteln leistbare Wohnungen vor allem von gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften. Und wir vermieten auch selber Wohnungen, die uns zur Verfügung gestellt werden.
Wie groß ist ungefähr der Anteil privater Investoren, die ihre Wohnung zur Verfügung stellen?
Der ist ausbaufähig. Gleichzeitig sehen wir da durchaus Potenzial, dass private Vermieter:innen uns Wohnungen zur Verfügung stellen. Zu Konditionen, die dann für die Nutzer:innen leistbar sind. Aber da ist noch viel Luft nach oben. Es gibt viel Reichtum in diesem Land. Und es gibt Wohnungseigentümer:innen, die gerne ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden wollen, indem sie mit Sozialorganisationen kooperieren. Das ist ein Bereich, auf den man sich zukünftig noch stärker fokussieren kann. Menschen mit Eigentum wird bewusst, dass sie sich beteiligen sollten am sozialen Zusammenhalt. Und das können sie bei neunerhaus tun, indem sie eine Wohnung zur Verfügung stellen. Wir haben ein System, bei dem wir die Seite der Vermieter:innen genauso begleiten wie die der Mieter:innen.
Im Jahr 2021 gab es in Wien erstmals mehr ausländische Investoren auf dem Immobilienmarkt als einheimische. Das ist die Zuspitzung eines Trends, den es seit etwa 15 Jahren gibt. Finden Sie überhaupt noch ausreichend günstigen Wohnraum?
Der spekulative Wohnungsmarkt und die Akteure darauf sind definitiv ein strukturelles Problem. Wir fordern mehr gemeinnützigen Wohnbau und die Erhöhung der Bauleistung in dem Bereich. Ja, wir finden noch leistbaren Wohnraum. Das liegt aber am großen Engagement unserer Unterstützer:innen. Noch nie waren Sozialorganisationen in diesem Feld so engagiert und präsent. Aber mit der aktuellen Teuerung einerseits und der geringeren Bauleistung im gemeinnützigen Bereich andererseits, wird es langfristig natürlich zunehmend schwierig, genügend Wohnungen zu finden.
Werden Menschen, die es schwer haben, sich eine Wohnung zu leisten, gezwungen, in Gegenden zu ziehen, in die sie gar nicht wollen? Schließlich gibt es Gegenden, in denen es leistbare Wohnungen gibt.
Dass es regional unterschiedliche Preise gibt, ist ein Fakt. Auch, dass es dort eine schlechtere Anbindung und weniger Jobs gibt. Bei neunerhaus kommen Personen erst dann zu uns, wenn sie nicht nur keine leistbare Wohnung mehr finden, sondern auch noch zusätzlichen Unterstützungsbedarf haben. Beispielsweise bei der Schuldenregulierung oder beim Thema Gesundheit. Und weil wir durch den Fonds Soziales Wien finanziert werden, sind wir auch nur in Wien tätig. Wir wissen auch, dass es in Regionen, die ländlicher geprägt sind, mehr leistbaren Wohnraum gibt. Und viele Menschen orientieren sich auch dahin, wir selbst vermitteln aber nur in Wien.
Im Rahmen der EU-Deklaration möchte Österreich die Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 beenden. Was wurde seit dem Bekenntnis zu diesem europäischen Ziel konkret getan?
Das Bekenntnis ist positiv und man nimmt es durchaus wahr. Aber andere EU-Länder, sechs insgesamt, haben schon eine Strategie vorgelegt. Bei fünf weiteren ist eine in Ausarbeitung. In Österreich gibt es so etwas noch nicht. Eine nationale Strategie zur Beendigung von Obdach- und Wohnungslosigkeit ist aber etwas, dass ich mir erwarte. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) hat so eine Strategie schon präsentiert. Darin wurde vorgerechnet, dass mit 25.000 Wohnungen bis zum Jahr 2025 die Obdachlosigkeit in Österreich beendet werden kann. Für eine nationale Strategie zur Beendigung von Obdachlosigkeit gäbe es also durchaus Vorarbeiten. Allerdings muss sich die Datenlage verbessern. Die Akteur:innen können nur dann gemeinsam und zielgerichtet tätig werden, wenn wir belastbares Datenmaterial haben.
Wie kann man Ihnen als Einzelperson konkret helfen?
Es gibt in den Mittel- und Oberschichten viele Menschen, die erben. Da gibt es durchaus auch Eigentum, das nicht direkt gebraucht wird. Im Sinne des sozialen Zusammenhalts wäre es wirklich eine tolle Sache, wenn nicht nur auf mehr Engagement vom Staat, sondern auch von Privatpersonen hoffen dürfen und darauf bauen könnten. Wir fordern einerseits mehr Commitment vom Staat, von Bauträgern und von Kommunen, hoffen aber auch, dass wir verstärkt private Eigentümer:innen erreichen. Und selbstverständlich kann man unsere Arbeit auch durch Spenden unterstützen.