Obdachlosigkeit: „Es kommen existenzielle Probleme auf uns zu“

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  1. Seite 1 - Steigende Obdachlosigkeit
  2. Seite 2 - Leistbare Wohnungen finden
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Jede:r Siebte in Österreich hat Probleme damit, die Wohnkosten zu zahlen. Coronakrise und Inflation verschärfen das Problem. Neunerhaus stemmt sich gegen den vorprogrammierten Anstieg der Obdachlosigkeit. Geschäftsführerin Elisabeth Hammer im Interview.

Elisabeth Hammer im Interview: Lösungen gegen die Obdachlosigkeit

Obdachlosigkeit in Österreich - Schild Hunger. Symbolfoto Elisabeth Hammer Interview.
Inflation und Coronakrise haben die Situation bei obdachlosen Menschen verschärft. Neunerhaus versucht zu helfen. | © Adobe Stock/thauwald-pictures
Was sind denn aus Ihrer Sicht Maßnahmen, die in dieser Situation auch langfristig helfen?

Leistbares Wohnen ist für uns der Dreh- und Angelpunkt. Nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern strukturell. Mit der aktuellen Teuerung sieht die Gesamtgesellschaft, dass leistbares Wohnen ein Gamechanger für individuelle Biografien sein kann. Wohnen schafft ganz einfach Sicherheit. Mittlerweile ist aber die Sorge um das Wohnen breiter angekommen in der Gesellschaft.

Wie kann neunerhaus da helfen?

Was wir tagtäglich umsetzen, ist stark darauf bezogen, die Phase der Wohnungs- und Obdachlosigkeit so kurz wie möglich zu halten. Dafür braucht es eine Strategieänderung in den Unterstützungsstrukturen. Unser Konzept hat die Überschrift „Housing First“; Menschen sollen schnellstmöglich wieder in eine eigene Wohnung kommen. Mit einem eigenen Mietvertrag und allen Rechten und Pflichten, die der mit sich bringt.

Dafür braucht es preisgünstige Wohnungen.

Wir sind sehr engagiert, den Anteil an Housing First-Wohnungen wachsen zu lassen und akquirieren engagiert. Dafür kooperieren wir stark mit dem gemeinnützigen Wohnbau und vermitteln leistbare Wohnungen ­ vor allem von gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften. Und wir vermieten auch selber Wohnungen, die uns zur Verfügung gestellt werden.

Wie groß ist ungefähr der Anteil privater Investoren, die ihre Wohnung zur Verfügung stellen?

Der ist ausbaufähig. Gleichzeitig sehen wir da durchaus Potenzial, dass private Vermieter:innen uns Wohnungen zur Verfügung stellen. Zu Konditionen, die dann für die Nutzer:innen leistbar sind. Aber da ist noch viel Luft nach oben. Es gibt viel Reichtum in diesem Land. Und es gibt Wohnungseigentümer:innen, die gerne ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden wollen, indem sie mit Sozialorganisationen kooperieren. Das ist ein Bereich, auf den man sich zukünftig noch stärker fokussieren kann. Menschen mit Eigentum wird bewusst, dass sie sich beteiligen sollten am sozialen Zusammenhalt. Und das können sie bei neunerhaus tun, indem sie eine Wohnung zur Verfügung stellen. Wir haben ein System, bei dem wir die Seite der Vermieter:innen genauso begleiten wie die der Mieter:innen.

Im Jahr 2021 gab es in Wien erstmals mehr ausländische Investoren auf dem Immobilienmarkt als einheimische. Das ist die Zuspitzung eines Trends, den es seit etwa 15 Jahren gibt. Finden Sie überhaupt noch ausreichend günstigen Wohnraum?

Der spekulative Wohnungsmarkt und die Akteure darauf sind definitiv ein strukturelles Problem. Wir fordern mehr gemeinnützigen Wohnbau und die Erhöhung der Bauleistung in dem Bereich. Ja, wir finden noch leistbaren Wohnraum. Das liegt aber am großen Engagement unserer Unterstützer:innen. Noch nie waren Sozialorganisationen in diesem Feld so engagiert und präsent. Aber mit der aktuellen Teuerung einerseits und der geringeren Bauleistung im gemeinnützigen Bereich andererseits, wird es langfristig natürlich zunehmend schwierig, genügend Wohnungen zu finden.

Werden Menschen, die es schwer haben, sich eine Wohnung zu leisten, gezwungen, in Gegenden zu ziehen, in die sie gar nicht wollen? Schließlich gibt es Gegenden, in denen es leistbare Wohnungen gibt.

Dass es regional unterschiedliche Preise gibt, ist ein Fakt. Auch, dass es dort eine schlechtere Anbindung und weniger Jobs gibt. Bei neunerhaus kommen Personen erst dann zu uns, wenn sie nicht nur keine leistbare Wohnung mehr finden, sondern auch noch zusätzlichen Unterstützungsbedarf haben. Beispielsweise bei der Schuldenregulierung oder beim Thema Gesundheit. Und weil wir durch den Fonds Soziales Wien finanziert werden, sind wir auch nur in Wien tätig. Wir wissen auch, dass es in Regionen, die ländlicher geprägt sind, mehr leistbaren Wohnraum gibt. Und viele Menschen orientieren sich auch dahin, wir selbst vermitteln aber nur in Wien.

Im Rahmen der EU-Deklaration möchte Österreich die Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 beenden. Was wurde seit dem Bekenntnis zu diesem europäischen Ziel konkret getan?

Das Bekenntnis ist positiv und man nimmt es durchaus wahr. Aber andere EU-Länder, sechs insgesamt, haben schon eine Strategie vorgelegt. Bei fünf weiteren ist eine in Ausarbeitung. In Österreich gibt es so etwas noch nicht. Eine nationale Strategie zur Beendigung von Obdach- und Wohnungslosigkeit ist aber etwas, dass ich mir erwarte. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) hat so eine Strategie schon präsentiert. Darin wurde vorgerechnet, dass mit 25.000 Wohnungen bis zum Jahr 2025 die Obdachlosigkeit in Österreich beendet werden kann. Für eine nationale Strategie zur Beendigung von Obdachlosigkeit gäbe es also durchaus Vorarbeiten. Allerdings muss sich die Datenlage verbessern. Die Akteur:innen können nur dann gemeinsam und zielgerichtet tätig werden, wenn wir belastbares Datenmaterial haben.

Wie kann man Ihnen als Einzelperson konkret helfen?

Es gibt in den Mittel- und Oberschichten viele Menschen, die erben. Da gibt es durchaus auch Eigentum, das nicht direkt gebraucht wird. Im Sinne des sozialen Zusammenhalts wäre es wirklich eine tolle Sache, wenn nicht nur auf mehr Engagement vom Staat, sondern auch von Privatpersonen hoffen dürfen und darauf bauen könnten. Wir fordern einerseits mehr Commitment vom Staat, von Bauträgern und von Kommunen, hoffen aber auch, dass wir verstärkt private Eigentümer:innen erreichen. Und selbstverständlich kann man unsere Arbeit auch durch Spenden unterstützen.

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Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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