Arbeit&Wirtschaft: Langsam werden die Auswirkungen der ungebremsten Inflation in den Straßen sichtbar, etwa in den klassischen Arbeiter*innenbezirken Wiens. Gleichzeitig – wir führen das Gespräch am Morgen nach der Landtagswahl in Niederösterreich – fährt die FPÖ einen zweistelligen Zugewinn an Wähler:innenstimmen ein. Was ist passiert?
Klaus Dörre: Was man jetzt sieht, ist das Ergebnis einer längerfristigen Entwicklung. In den letzten zehn Jahren vor der Pandemie hat die untere Hälfte der Einkommensbezieher:innen gemessen an ihrem Anteil am Bruttoinlandsprodukt immer weiter verloren. Denn hat sich prekäre und niedrig entlohnte Beschäftigung einmal in der Gesellschaft festgesetzt, wird man sie nicht mehr so schnell los. Zusätzlich funktionieren die Aufstiegskanäle in bessere Verhältnisse nicht mehr. Vor dem Hintergrund der schleichenden Deindustrialisierung hat sich dieser Prozess in anderen entwickelten, kapitalistischen Ländern wie den USA und Großbritannien schon früher vollzogen und trifft jetzt zeitversetzt den europäischen Kontinent und hier besonders die Länder mit einem hohen Industrieanteil.
Wie wirkt sich das auf die Beschäftigten aus?
Es setzt etwas in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein, das hochproblematisch ist, etwa bei jener großen Gruppe der Produktionsarbeiter:innen, die über einen längeren Zeitraum als eine schrumpfende Gruppe im Abstieg bezeichnet wurden. Denn ja, die Beschäftigung in der karbonbetriebenen Industrie sinkt tendenziell. Gleichzeitig wird übersehen, dass neue Bereiche mit oft schwerer körperlicher Arbeit, anstrengender Arbeit, monotoner und repetitiver Arbeit entstehen, also klassische Arbeiter:innen-Tätigkeiten wie etwa in großbetrieblichen Strukturen der Logistik, die sich auch hinter dem Onlinehandel verbergen.
Für die untere Hälfte der Lohn- und Einkommensbezieher:innen schwindet der Anteil, der für das Schöne im Leben zur Verfügung steht, dramatisch. Das sieht man dann in den Gesichtern jener Leute, die wirklich nicht mehr wissen, wie es weitergeht.
Klaus Dörre, Soziologe
Das heißt, was man früher als Arbeiter:innenklasse bezeichnet hat, verschwindet nicht einfach, sondern ist nach wie vor eine große Gruppe in der Gesellschaft, die aber mit ihren Problemen in der Öffentlichkeit kaum vorkommt. Medial beschäftigt man sich hauptsächlich mit den extremen Formen von Armut und Prekariat in einer skandalisierenden Form. Jene jedoch, die zwar in festen Anstellungsverhältnissen sind, aber dennoch schwer mit ihrem Lohn über die Runden kommen, fallen aus dem öffentlichen Diskurs, weil wenig spektakulär.
Was macht das mit dieser großen Gruppe?
Es handelt sich dabei um eine schleichende Abwertung dieser Gruppen, eine Ignoranz gegenüber ihren Problemen. Aktuell verschärft sich die Situation noch unter den Bedingungen der Inflation, und das führt dazu, dass die realen Nettoeinkommen dieser Gruppen plötzlich dramatisch schwinden. Für Deutschland hat etwa das arbeitgeber:innennahe Institut der deutschen Wirtschaft berechnet, dass alleine für das Jahr 2023 ein Wohlstandsverlust pro Kopf von 7.000 Euro zu erwarten ist. Das bedeutet: Für die untere Hälfte der Lohn- und Einkommensbezieher:innen schwindet der Anteil, der für das Schöne im Leben zur Verfügung steht, dramatisch. Das sieht man dann in den Gesichtern jener Leute, die wirklich nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Und das im wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismus!
Was bedeutet das für die Demokratie und die Politik?
Das ist besorgniserregend, weil es bedeutet, dass sich das Problem der politischen Repräsentation dieser Arbeiter:innengruppen deutlich verstärkt. Und man weiß nicht, wohin das führt, denn die Gefahr, dass solche Arbeiter:innengruppen ihr Heil bei rechtspopulistischen oder rechtsradikalen Formationen suchen, ist groß.
Was macht deren Argumentation so verführerisch?
So unterschiedlich die populistische oder die radikale Rechte auch agiert: Für sie ist immer die verzerrte Thematisierung des Oben-unten-Konflikts entscheidend, sie definieren ihn in einen Innen-außen-Konflikt um, also das, was man früher – und ich sage das auch heute noch – Klassenkonflikte nannte, auch wenn es sich um einen demokratisch regulierten Klassenkampf handelt.
Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Personen, die um ihren Job bangen, sich nicht vor der Arbeitslosigkeit fürchten, sondern vor dem Statusverlust.
Klaus Dörre, Soziologe
Dabei docken die Rechten argumentativ daran an, dass einerseits die Schleusen für jene, die eigentlich nichts in die Sozialkassen eingezahlt haben, geöffnet würden, während man selbst jahrelang am Berg der Gerechtigkeit gewartet und versucht hat hochzukommen, aber immer noch in der Schlange steht und andere, nicht Anspruchsberechtigte, vermeintlich vorbeiziehen sieht. Sie greifen diese Erzählung auf, radikalisieren sie und laden sie mit ethnischen Ausschlusskriterien auf. Kurz gesagt, es werden Ressentiments mobilisiert. Diese gibt es überall, in allen Gesellschaften. Die radikale Rechte fügt sie jedoch in ein Denkgebäude ein, das Arbeiter:innen fiktiv aufwertet. Sie setzen also der offenkundigen Abwertung dieser Gruppe eine fiktionale Aufwertung entgegen, indem sie sagen: „Wir schenken euch unsere Aufmerksamkeit.“
Sind diese Parteien tatsächlich das Sprachrohr der Bevölkerung?
Die FPÖ, die AfD in Deutschland oder die Neofaschisten um Meloni in Italien sind nicht einfach das Sprachrohr der Bevölkerung. Sie stimulieren sehr gezielt und knüpfen bewusst an ausschließende Ressentiments an, verstärken diese und geben sich selbst als Antiestablishment – ein Habitus, der, wie man es ja bei der FPÖ gesehen hat, völlig gekünstelt ist. Die sind ja, zumindest was den korrupten Teil der Eliten angeht, gewissermaßen ganz vorne mit dabei.
Warum dringen sie dann dennoch immer wieder mit dieser Argumentation durch?
Das ist eine Frage, die sich geradezu aufdrängt – besonders wenn man sieht, dass bei der letzten Bundespräsidentenwahl weit mehr als 80 Prozent der Arbeiter:innen den Kandidaten der FPÖ gewählt haben. Dabei müssen wir uns nochmals jene Beschäftigten ansehen, die in den Bereichen arbeiten, die keine Öffentlichkeit haben, etwa jene in den Karbonbranchen – also Autozulieferer, Stahl, Chemieindustrie in Deutschland. Es sind Branchen, in denen die Beschäftigten eine neue Drehung der Abwärtsspirale im Zuge der durch den Klimawandel forcierten Transformation zur Realisierung der Klimaziele erfahren werden.
Worin äußert sich das konkret?
Im Zuge empirischer Recherchen im Automobilwerk Opel in Eisenach, Deutschland, haben wir mit gewerkschaftlich organisierten Vertrauensleuten gesprochen. Einer hat das, was viele von ihnen denken und empfinden, aus meiner Sicht sehr gut auf den Punkt gebracht. Er schilderte, dass es sein Hobby sei, auf der linken Autobahnspur Teslas zu jagen, bis sie mit überhitztem Motor rechts ranfahren müssen. Er werde damit weitermachen, er ließe sich das nicht verbieten.
Es braucht Sicherheitsgarantien für diejenigen, die in der Transformation von Statusverlust bedroht sind. Dafür ist es aus meiner Sicht notwendig, eine sehr ehrliche politische Kommunikation zu führen.
Klaus Dörre, Soziologe
Hat er gesagt, weshalb?
Das ist der springende Punkt: Er muss, in Gotha wohnend, um 3:40 Uhr aufstehen, um die Frühschicht um 5:30 Uhr in Eisenach pünktlich zu beginnen. Mangels öffentlichen Nahverkehrs fährt er mit dem Auto. Dann bewältigt er seine Arbeit in 51-Sekunden-Takten, mit zwei jeweils 9-minütigen Pausen und einer 23-minütigen Mittagspause. Und nicht nur er, sondern alle anderen Befragten schildern, dass sie schon eine Stunde vor der Mittagspause platt sind. Es ist also eine harte, körperlich beanspruchende Tätigkeit. Auf die Frage, weshalb er diese Arbeit mache, antwortete er, es gäbe drei Gründe: Erstens sei es das Gehalt von 3.800 Euro brutto, als Arbeiter würde er das sonst nirgendwo verdienen. Zweitens seien die Kolleg:innen im Werk nicht nur Kolleg:innen, sondern Familie. Und drittens empfinde er seine Tätigkeit noch als geschützt, da sie einen starken Betriebsrat, einen Tarifvertrag und Mitbestimmung haben.
Übersetzt heißt das, er verfügt über Sozialeigentum, und dafür ist er bereit, diese stark belastende Tätigkeit auszuüben. Und dann fügte er Folgendes hinzu: „In meiner freien Zeit will ich tun und lassen, was mir gefällt, und lasse mir nicht dreinreden, besonders nicht von Leuten, die nicht wissen, was Bandarbeit ist.“