Arbeit & Wirtschaft: Die Hoffnung in den Anfangsjahren des Internets war die einer Demokratisierung. Menschen, die bisher vom Diskurs ausgeschlossen waren, sollten partizipieren können. Offenbar ist genau das Gegenteil eingetreten.
Martin Andree: Das Interessante ist ja, dass digitale Medien oberflächlich betrachtet immer größere Bestandteile der Bevölkerung in die Lage versetzen, ihre Meinung öffentlich kundzutun. Aber die dominanten Plattformen von heute gehören Privatunternehmen, die nicht per se Medienunternehmen sind, und diese decken in den meisten Fällen komplette Mediengattungen ab. Beispielsweise hat Google ungefähr 90 Prozent Anteil an der Suchmaschinennutzung. Damit hat ein multinationales Privatunternehmen nahezu die komplette Kontrolle darüber, welche Informationen die Menschen ausgespielt bekommen. Privatunternehmen, die Mediengattungen kontrollieren, können auch über die Regeln des Zugangs bestimmen. Das ist das Gegenteil von Demokratie.
In Ihrem Buch „Big Tech muss weg“ schreiben Sie, bereits im Jahr 2029 könnten Tech-Konzerne unsere Demokratie komplett ausgehöhlt haben. Woran machen Sie das fest?
Ob das jetzt bis 2029 oder bis 2031 geschieht, spielt keine Rolle. Aber de facto werden analoge Medien durch digitale substituiert. In der digitalen Medienwelt findet der Traffic – und damit der Diskurs – größtenteils auf den Plattformen statt. Das heißt, in der digitalen Welt haben unabhängige Anbieter eigentlich gar keine Chance mehr und nicht mehr die publizistische Macht, eine Debatte zu erzeugen. Aus diesen Gründen ist es mathematisch vorhersehbar, dass in fünf bis zehn Jahren unsere öffentliche Sphäre weitestgehend von den uns allen bekannten Plattformen beherrscht werden wird.
Die „Süddeutsche Zeitung“ und die „ZEIT“ publizierten beispielsweise im November interne Dokumente der deutschen FDP, was diese arg in Bedrängnis brachte und letztlich den damaligen FDP-Generalsekretär zum Rücktritt bewegte. Zeigt das nicht, dass traditionelle Medien sehr wohl Einfluss auf die öffentliche Debatte haben?
Das ist korrekt, aber investigative Arbeit kostet Geld. Heute können redaktionelle Medien solche Debatten nur dann erzeugen, wenn sie ihre Inhalte auch digital anbieten, vor allem auf den Plattformen. Aber genau dort werden sie für ihre Inhalte nicht entlohnt. Gleichzeitig hören wir aus allen Ländern und Teilen der Medienbranche, dass die Redaktionen ihre Finanzierungsgrundlage verlieren. Doch an Beispielen wie dieser Recherche stellen wir fest, wie wichtig es ist, dass wir eine qualitativ hochwertige investigative Berichterstattung haben, die solche Dinge an die Öffentlichkeit bringt. Wer soll das denn in Zukunft machen?
Wenn ich Ihre Aussagen zuspitze, könnte ich sagen, Kapitalismus und Demokratie sind schwer vereinbar.
Ich würde das nicht so formulieren. Typischerweise wird der momentane Zustand der Plattformen als eine böse Form des Kapitalismus betrachtet, aber das ist nicht der Fall. Beispielsweise sagt der US-amerikanische Milliardär Peter Thiel offen, dass er keinen Kapitalismus im Sinne einer freien Marktwirtschaft will. Derzeit erleben wir in der digitalen Welt das Gegenteil von Kapitalismus: die gezielte, planvolle und systematische Abschaffung von Vielfalt und Wettbewerb. Thiel sagt: „Competition is for losers.“ Angesichts des hohen Grads der Monopolisierung sollten wir besser von einer feudalistischen Wirtschaft sprechen, denn die Plattformen generieren ihre Einnahmen auf ähnliche Art und Weise, wie das in feudalistischen Zeiten der Fall war. Sie besetzen Monopole, und Nutzer:innen zahlen den Plattformen Zugangsrenten. Das ist für die Feudalherren ein attraktives Geschäftsmodell, denn sie müssen nichts arbeiten und machen, nur indem sie Zugänge gewähren, große Profite.

Warum profitieren vor allem Parteien vom rechten Rand von dieser Dynamik?
Plattformen bestimmen die Erfolgsbedingungen von Kommunikation in unserer Gesellschaft. Allein das ist alarmierend, denn wir als Gesellschaft bestimmen nicht mehr, wie der digitale öffentliche Raum strukturiert ist, in dem unser politischer Diskurs stattfindet. Wir müssen uns vor Augen halten, dass das Forum der Demokratie immer der Kontrolle des demokratisch legitimierten Staates unterlegen war. Heute gehört es fast ausschließlich privaten Konzernen. Diese bestimmen, welche Aussagen erfolgreich an den Mann oder die Frau gebracht werden. Und wir sehen, dass polarisierende Aussagen am meisten Traffic erzeugen – wodurch unser politischer Diskurs immer härter und brutaler wird.
In einem Interview mit dem ZDF meinten Sie, das eigentlich Tragische sei, dass sich dieses Problem innerhalb weniger Monate lösen ließe. Ist es wirklich so einfach?
Ich denke, ja. Beispielsweise haben Plattformen durchgesetzt, dass sie nicht als Medien reguliert werden, sondern als Infrastrukturen. Allerdings verdienen sie auf dieselbe Art und Weise Geld wie redaktionelle Medien: Sie publizieren Inhalte und monetarisieren diese durch Werbung – ohne dem Medienrecht zu unterliegen. Das ist ein massives Regulierungsprivileg. Wenn wir schlau gewesen wären, hätten wir gesagt: „Wenn ihr Infrastrukturen seid, dann werdet ihr auch als solche behandelt, aber dann dürft ihr keine Inhalte monetarisieren.“
Wenn es so einfach ist, wieso passiert dann nichts?
Weil wir keine Debatte haben. Als in Deutschland 1962 die Medienfreiheit bedroht war, weil auf Anweisung des damaligen CSU-Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (1915–1988) die Redaktion des „Spiegels“ gestürmt wurde, gab es in sämtlichen Medien einen publizistischen Aufschrei. Tausende Menschen demonstrierten dagegen. Heute ist es so, dass die redaktionellen Medien seit 15 Jahren systematisch abgeschafft werden – aber niemand wehrt sich. Das ist für mich schwer nachvollziehbar.
Vielleicht liegt es daran, dass die Spiegel-Affäre ein sehr emotionalisierendes Ereignis war. Die Polizei stürmte einen Raum, der für den Staat tabu war. Die Entwicklung, über die wir jetzt sprechen, läuft subtiler ab.
Das ist sicherlich richtig. Spätestens mit Elon Musk haben wir aber einen Übeltäter, mit dem wir das Narrativ verknüpfen können. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Situation 1962 im Verhältnis zur momentanen Bedrohung der politischen Öffentlichkeit geradezu harmlos war – zumal wir in allen westlichen Gesellschaften das Vordringen des Populismus und die Zerstörung des politischen Diskurses beobachten können. Wenn demokratische Strukturen einmal abgeschafft worden sind, ist es sehr schwierig, sie wieder neu entstehen zu lassen. Deswegen müssen wir jetzt alles daransetzen, die Demokratie zu bewahren.
Wir erleben in der digitalen Welt das
Gegenteil von Kapitalismus: die gezielte, planvolle und systematische Abschaffung
von Vielfalt und Wettbewerb.
Martin Andree, Medienwissenschaftler
Was ist die Reaktion von Politiker:innen, wenn Sie mit Ihnen ins Gespräch kommen?
Das ist paradox, denn einerseits bekomme ich viel Zuspruch und werde oft zu Veranstaltungen eingeladen. Andererseits ändert sich nichts an den Strukturen. Ich persönlich bin doppelt und dreifach frustriert, weil Lösungen in großem Detailreichtum erarbeitet wurden, aber de facto ignoriert werden. Die Möglichkeiten der Veränderung sind mit dem Sieg Donald Trumps (der große Tech-Konzerne unterstützt, Anm. d. Red.) nun auch massiv erschwert worden. Ich bin derzeit tatsächlich persönlich (… überlegt …) betrübt.
Die EU hat in der Vergangenheit saftige Strafen gegen Tech-Konzerne ausgesprochen, und die neue, sozialistische EU-Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera hat angekündigt, dass sie sich diese Unternehmen vorknöpfen möchte. Stimmt Sie das optimistischer?
Ja und nein. Brüssel kann die Ausbreitung von Monopolen abschwächen, aber erstens wird nichts gegen die existierenden Monopole getan, und zweitens hat Brüssel überhaupt nicht die rechtliche Hoheit über Medien; das ist Sache der Nationalstaaten. Mein Vorschlag wäre: Wenn Nationalstaaten merken, dass sie zu schwach sind, um auf nationaler Ebene Chancengleichheit und Pluralismus der digitalen Medien herzustellen, dann müssen sie diese Verantwortung an die EU abtreten.
Ich persönlich bin doppelt und dreifach frustriert,
weil Lösungen in großem Detailreichtum erarbeitet wurden,
aber de facto ignoriert werden.
Martin Andree, Medienwissenschaftler
Die redaktionellen Medien können sich also nicht wehren, Politiker:innen auf nationalstaatlicher Ebene scheinen auch keine Lust dazu zu haben, und die EU ist nicht zuständig. Wer könnte Veränderungen anstoßen?
Vielleicht ist es eine Möglichkeit, für die Medienregulierung zuständige Institutionen europaweit so zu vernetzen, dass man auf Ebene der europäischen Nationalstaaten einen harmonisierten Vorschlag umsetzen kann. Funktionierende Medien bzw. eine funktionierende Öffentlichkeit sind die Grundbedingung für die Lösung anderer gesellschaftlicher Probleme. Mit einer zerstörten Öffentlichkeit werden wir auch die Klimakrise nicht in den Griff bekommen. Jetzt können wir noch handeln, wir leben noch in Demokratien – aber wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um die Demokratie zu retten.
Was kann der oder die Einzelne tun?
Wir müssen es schaffen, eine echte gesellschaftliche Debatte zum Thema hinzubekommen, also sollten wir der Politik Druck machen und alle uns zur Verfügung stehenden Kanäle nutzen, um für eine Befreiung des Internets von den Oligarch:innen zu kämpfen – sonst ist es zu spät!
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