Die Ereignisse
Über einen Whistleblower ist diese Liste im Sommer des Vorjahres an die Öffentlichkeit geraten und hat für Aufruhr gesorgt. „Bei Gewerkschaften, VerbraucherschützerInnen und Umweltverbänden formierte sich schnell Protest. Rasch war von einer ‚Liste des Grauens‘ die Rede“, fasst Greif die Ereignisse zusammen. „Das ist ein neuer Tiefpunkt und ein weiteres Indiz dafür, dass Beschäftigte nicht mehr sind als Kostenfaktoren, die ohne Rücksicht auf Gesundheit oder Familienleben ausgepresst werden sollen“, kritisiert FSG-Vorsitzender Rainer Wimmer.
Das ist ein neuer Tiefpunkt und ein weiteres Indiz dafür, dass Beschäftigte nicht mehr sind als Kostenfaktoren.
Wolfgang Greif, Leiter der Bildungsabteilung der Fachgewerkschaft GPA-djp
„Nach dem unbeabsichtigten Bekanntwerden der Liste herrscht bei PolitikerInnen der Regierungsparteien sowie bei der Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung helle Aufregung“, berichtete Frank Ey, Referent in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien, am 3. August 2018 im A&W-Blog. Von allen Ecken kamen umfangreiche Erklärungen, Rechtfertigungen und Leugnungsversuche.
So argumentierte Martin Gleitsmann, Leiter der Abteilung für Sozialpolitik in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ): Behauptungen, man wolle an der fünften Urlaubswoche rütteln (Punkt 71 der Liste), „entbehren jeder Grundlage und sind als reine parteipolitische Polemik zu werten“. Weiters folgten von ihm Aussagen wie: „Es wurde eine Materialsammlung, also eine Auflistung von Bereichen, zusammengestellt, wo Österreich weitreichendere Regelungen hat als die EU.“
Auch der Bundesminister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz, Josef Moser, fühlte sich bemüßigt, die in Umlauf gekommene Liste zu rechtfertigen: „Betroffen sind nationale Rechtsvorschriften, die aus Anlass eines EU-Rechtsaktes erlassen wurden, über das Ziel hinausschießen und das Leben der Österreicherinnen und Österreicher erschweren. Sie sollen abgeschafft werden, damit auch teure Bürokratie abgebaut und für die Zukunft verhindert werden kann.“
Die Industriellenvereinigung ging in ihrer OTS-Aussendung vom 10. Juli 2018 noch einen Schritt weiter und setzte auf ein anderes Pferd: Leugnen. „Die Industriellenvereinigung hat zu keinem Zeitpunkt gefordert, den Mindesturlaub der Menschen in Österreich zu reduzieren oder den Kündigungsschutz für Frauen in Karenz aufzuheben. Außerdem existiert KEINE gemeinsame Liste der IV und der WKO, in welcher Beispiele für Gold Plating, also die Übererfüllung von EU-Richtlinien, aufgelistet worden wären.“ Es handle sich bei dieser Liste lediglich um „die systematische Verbreitung von Unwahrheiten, Panikmache und haltlose Gerüchte.“
Fakt ist jedoch: Es gibt diese Liste (vollständige Liste in konsolidierter Fassung mit allen 489 Punkten).
Die Hintergründe
Welche Motive stecken nun hinter dieser Liste? Kurz zusammengefasst: Die Wirtschaft möchte ihre Kosten senken und so wurde die gesamte Gesetzgebung des Landes auf der Suche nach Einsparungspotenzial durchforstet. Das geschah mit der Begründung, dass österreichische Unternehmen unter der unnötigen Übererfüllung europäischer Richtlinien leiden. Es scheint, als wäre der Blick lediglich auf das Maximieren von Profiten gerichtet – was das für die Beschäftigten, KonsumentInnen oder die Umwelt bedeutet, ist wohl nachrangig. Es handelt sich um ein reines „Wunschprogramm der Wirtschaft“, so Frank Ey. Vor allem zeigt diese Liste aber ihm zufolge auch, „wie weit die Gedankenspiele einiger Wirtschaftsverbände gehen“.
Es handelt sich um ein reines Wunschprogramm der Wirtschaft.
Frank Ey, AK Wien
Die Kritik
Kritik gab es von vielen Seiten. Und das nicht nur innerhalb Österreichs: „Auch auf EU-Ebene herrscht bis auf einige radikal-liberale Kreise Verwunderung über diesen Vorstoß der österreichischen Präsidentschaft. Denn das Vorgehen läuft dem Wortlaut und Geist des EU-Vertrages geradezu zuwider, wenn die EU-rechtlich legitimierte Übererfüllung als ‚Vergoldung‘ denunziert und apodiktisch eine Rückführung nationaler Gesetze auf EU-Mindestniveau angestrengt wird“, argumentiert Greif.
Dazu geäußert hat sich auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), der „den Abbau von Standards deutlich ablehnt“, so Greif. In der offiziellen Stellungnahme des EWSA heißt es: „Mindestanforderungen in EU-Richtlinien sollten nicht im Sinnes eines ‚Höchststandards‘ ausgelegt werden, der im Zuge der Umsetzung in einzelstaatliches Recht nicht überschritten werden darf.“
Denn die Auswirkungen wären verheerend: „Würden Mindeststandards in EU-Richtlinien generell als Maximalniveaus gelten, die in den nationalen Rechtsordnungen nicht überschritten werden dürfen, würde das generell Schutzniveaus drücken“, so Greif.
AK-Präsidentin Renate Anderl betont: „Es sollte darum gehen, sich die besten Ideen von den Besten Europas abzuschauen, um die höchstmögliche Lebensqualität für alle Mitgliedstaaten zu erreichen. Und es sollte nicht darum gehen, uns an Mindeststandards zu orientieren. Vielmehr sollten die Beschäftigten, KonsumentInnen und die Umwelt im Mittelpunkt stehen.“
Auch Umweltverbände meldeten sich zu Wort: „Ein Land wie Österreich muss sich gerade im Natur- und Umweltschutz an den besten EU-Ländern orientieren, nicht an den schlechtesten“, so Hanna Simons, WWF Österreich. „Hochwertige Rechtsgüter wie Natur, Umwelt und Gesundheit dürfen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Hier ist es absolut notwendig, bloße Mindeststandards zu übertreffen. Das gilt auch für den Klimaschutz und den Ausbau erneuerbarer Energien.“
Betroffene Bereiche
Die 489 zusammengetragenen Punkte der „Liste des Grauens“ betreffen weitreichende Bereiche der österreichischen Gesetzgebung. Betroffen sind sowohl arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen, der ArbeitnehmerInnenschutz, als auch Konsumenten- und Umweltschutz. Frank Ey gibt zu bedenken: „Selbst wenn nur ein Bruchteil der angeführten Beispiele aus der geleakten Liste im Rahmen der Gold-Plating-Initiative wirklich umgesetzt wird, sind Nachteile für die Bevölkerung zu befürchten.“ Immerhin geht es dabei um „über Jahrzehnte entwickelte Schutzstandards“, betont Greif.
Es geht um über Jahrzehnte entwickelte Schutzstandards.
Wolfgang Greif, Leiter der Bildungsabteilung der Fachgewerkschaft GPA-djp
- Kürzung des Jahresurlaubs auf vier Wochen
- Infragestellen von Überstundenzuschlägen
- Aufweichung des Kündigungsschutzes für Schwangere
- Einschränkung von Regelungen für Behinderte
- Infragestellen von Arbeitsschutzbestimmungen
- VerbraucherInnenschutz: Erschweren von Verbandsklagen
- VerbraucherInnenverträge: missbräuchliche Klauseln nicht mehr nichtig
- Gebühren z. B. bei Papierabrechnung und Bargeldabhebung
- Höhere Pönale bei vorzeitiger Rückzahlung von Krediten
- Fahrgastrechte: keine Entschädigung bei Verspätungen für ZeitkartenbesitzerInnen
- Weniger Kontrollen von Sozialvorschriften im Straßenverkehr
- Erhöhung des strafbestimmenden Wertes für Schmuggel und Abgabenhehlerei
Was es im Einzelnen bedeuten würde, wenn Österreich auf EU-Mindeststandards zurückrudert, lesen Sie in unserem Artikel „Was das Rückschrauben auf Mindeststandards bedeutet“.