Zum Zeitpunkt dieser Reportage war der Pflegeberuf selbst im kaiserlichen Österreich mit seinem großen Nachholbedarf gegenüber den westlichen Staaten schon als ehrenwerte Beschäftigung für Frauen anerkannt, wenige Jahrzehnte früher hatte es noch ganz anders ausgesehen. Pfleger:innen galten als ungebildet und Alkoholiker:innen, die zu keiner anderen Beschäftigung taugten, man nannte sie „Wärter:innen“. Dass sich viele angesichts der schlechten Ausbildung, der unzumutbaren Arbeitsbedingungen und eines Lohns unter der Armutsgrenze in den Alkohol flüchteten, wäre auch nicht verwunderlich gewesen.
Pfleger:innen galten als ungebildet
und Alkoholiker:innen, die zu keiner
anderen Beschäftigung taugten,
man nannte sie „Wärter:innen“.
Erst 1913 nahm eine öffentliche Krankenpflegeschule am Wiener Allgemeinen Krankenhaus ihre Tätigkeit auf – eine Errungenschaft, der sich England bereits dank der Reformerin Florence Nightingale schon ab 1860 rühmen konnte. Die Krankenschwester aus einer Oberschichtfamilie organisierte die Pflege der englischen Soldaten in den Lazaretten während des Krimkriegs, der in den 1850er Jahren in halb Europa tobte und bei dem es um den Einfluss der westlichen Kolonialmächte gegen die Ansprüche Russlands in der sich auflösenden türkischen Monarchie und in Asien ging. Als Lady und Kriegsheldin konnte sie viele ihrer Reformideen durchsetzen, wenn auch Arbeiter:innen, andere gering Verdienende und Arme zunächst kaum davon profitierten, weil es viel zu wenig gute Spitäler gab, die keine Kosten berechneten, und es kein ausgebautes öffentliches Gesundheitswesen gab. Der demokratische Sozialstaat, der sich nach 1945 nicht nur in England festigte, machte dann zwar das Gesundheitswesen zur öffentlichen Angelegenheit und erleichterte den Zugang zu Spitälern und Pflegeeinrichtungen, aber den Belastungen der Pflegenden und dem Weiterbestehen von Resten der Zwei-Klassen-Medizin wurde trotz aller Reformen lange viel zu wenig politische Beachtung geschenkt.
In Österreich sind die Pflegenden, je nach Träger des Krankenhauses oder der Pflegeeinrichtung, in mehreren Gewerkschaften organisiert, aber wenn es um die großen gemeinsamen Probleme geht, ziehen sie an einem Strang. Damit konnten etliche wichtige Fortschritte erreicht werden, zum Beispiel 1992 die Einbeziehung der Pfleger:innen in das Nachtschicht-Schwerarbeitsgesetz. Und damit die Anerkennung ihres Berufs als zeitlich, körperlich und seelisch besonders belastende Tätigkeit und das Recht auf Zeitgutschrift für Nachtdienst. Eine Budgetpolitik, die den Handlungsspielraum des Sozialstaats einzuengen begann und dabei neben Privatisierungen auf Personalabbau setzte, machte die positiven Ansätze wieder zunichte. Auch der von den Gewerkschaften 2011 durchgesetzte Bundes-Pflegefonds stellt nur eine Notlösung dar, da eine langfristige österreichweite solidarische Konstruktion nach wie vor nicht in Sicht ist. Auch das Hausbetreuungsgesetz aus dem Jahr 2007 geht auf die Forderung der Gewerkschaften zurück, die Rund-um-die-Uhr-Pflege in privaten Haushalten aus der Grauzone zu holen. Herausgekommen ist aber eine Regelung, die Scheinselbstständigkeit begünstigt, weil sich die wenigsten Familien unter den vorgesehenen Bedingungen angestellte Pflegekräfte leisten können. Für die Betroffenen fehlt deshalb jeder arbeitsrechtliche Schutz. Erreicht haben die Gewerkschaften dagegen, dass eine von ihnen nach der Jahrtausendwende konzipierte Ausbildungsreform teilweise umgesetzt wird. Die dabei ebenfalls eingerichtete Pflegelehre ist aber für Patient:innen und Jugendliche aus Gewerkschaftssicht kein Fortschritt – und wie das Beispiel Schweiz zeigt, trägt sie auch nicht zur Beseitigung des Pflegenotstands bei.
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