Der Sozialstaat im Visier

Metaller:innen halten bei einem Streik Schilder mit der Aufschrift "Wieder Gnade statt Recht. Wir wehren uns." hoch. Symbolbild für Angriffe auf den Sozialstaat.
Metaller-Kollegen beim Abwehrstreik gegen Pensionsraub 2003. | © ÖGB-Archiv
Warum die Angriffe auf den Sozialstaat weder überraschend noch außergewöhnlich sind und immer wieder neu gestartet werden – und warum die Gewerkschaftsbewegung dabei ganz oben auf der Liste der Feindbilder steht.

Der Sozialstaat ist die große Erfindung der Arbeiter:innenbewegung. Ohne Organisationen, die die Interessen der arbeitenden Menschen vertreten, ohne Gewerkschaften, würde es diese Form des Zusammenlebens in der Gesellschaft gar nicht geben. Das Ausformen des Sozialstaats als Demokratiemodell und die Gegenoffensive – beides begann in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. Die junge österreichische Republik legte unter sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung und mit starkem Rückhalt in den Gewerkschaften die Grundlagen für den demokratischen Sozialstaat.

Starke Geschoße aus dem rechtskonservativen Lager

Jene, die deshalb um ihre Privilegien fürchteten, hielten dagegen und bekamen Schützenhilfe von Experten, die ihnen die Werkzeugkiste für ihre Argumentationen lieferten.

Ludwig Mises, Leiter der Finanzabteilung der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie, der späteren Wirtschaftskammer, gab die Linie vor: An den Konjunkturschwankungen seien nicht Fehlentwicklungen der kapitalistischen Wirtschaft schuld, Wirtschaftseinbrüche seien zur Anpassung an die Marktbedürfnisse notwendig. Entlassungen, Arbeitslosigkeit, weniger Lohn und Unternehmenspleiten seien notwendige Begleiterscheinungen dieses „Reinigungsprozesses“. Als Berater der rechtskonservativen österreichischen Regierungen unterstützte er deshalb massiv deren „Austerity“-Politik, eine strenge Sparpolitik zulasten der volkswirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, um eine auf den Finanzmärkten akzeptierte starke Währung zu schaffen. Der Staat dürfe, predigte Mises, nur eingreifen, um den „freien Markt“ zu schützen. Der Streik, „die Waffe der Gewerkschaften“, sei eine „gewaltsame Erpressung“, schrieb er 1922. Die Gewerkschaften hätten „an der Besserung der Lage der Arbeiter nicht das geringste Verdienst gehabt“, sie seien im Gegenteil schädlich, die „Zerschlagung des Arbeitsmarktmonopols der Gewerkschaften“ müsse daher ein vorrangiges Ziel sein. Die Befolgung solcher Ratschläge in der Politik hatte hierzulande bittere Konsequenzen.

Der Sozialstaat ist die große
Erfindung der Arbeiter:innenbewegung.

Während die meisten Staaten, ob Demokratien oder Diktaturen, die Folgen der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren durch Staatseingriffe ganz gut in den Griff bekamen, ging es der großen Mehrheit der Menschen im austrofaschistischen Österreich immer schlechter. Das erleichterte Hitler die Imagewerbung für sein nationalsozialistisches „Drittes Reich“ ungemein. „Wenn schon Diktatur“, sagten sich die Menschen, „dann wenigstens eine, die etwas gegen die Arbeitslosigkeit unternimmt.“

Neoliberalismus – das neue politische Leitbild

Nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs bekam der Sozialstaat in der Politik einige Jahrzehnte wieder Zulauf. Ein Zusammenleben in der Gesellschaft, bei dem die Interessen der Vielen nicht ganz beiseitegeschoben werden und Gewerkschaften genügend Handlungsspielraum haben, schien der beste Weg, um eine weitere globale Katastrophe zu verhindern. Der Dichter Thomas Mann sprach es damals aus: „Die soziale Erneuerung der Demokratie ist Bedingung und Gewähr ihres Sieges.“

Aber gerade, weil die Verwirklichung des Modells Sozialstaat ein Erfolg zu werden versprach, begann die Gegenoffensive sofort, zunächst fast unbemerkt, dann immer offener, bis sie ab den 1980er-Jahren den Sozialstaat als politisches Leitbild verschwinden ließ. Ersetzt wurde es durch eine Philosophie mit sehr unterschiedlichen Ansätzen, deren Kern man als „Neoliberalismus“ umschreiben kann, auch wenn ihre Anhänger:innen das nicht gerne hören, weil sie sich als die einzigen wahren Verteidiger:innen der menschlichen Freiheit begreifen. Das Ziel von mehr Gerechtigkeit und Gleichheit sei immer mit Verteilungspolitik verbunden, Umverteilung sei aber Raub an den Reichen und deshalb eigentlich kriminell und würde die Freiheit einschränken.

Heute: Gnade statt Menschenrecht

Anders als in den 1920er- und 1930er-Jahren bezeichnet heute zwar fast niemand mehr Fortschritte in der Sozialpolitik als „sozialen Schutt“, der so rasch wie möglich zu beseitigen wäre, aber das Ziel jener, die eine Politik im Interesse der Vielen verhindern wollen, hat sich nicht geändert. Heute heißt es zum Beispiel: „Natürlich soll niemand hungern, aber für alle, die sich kein gesundes Bio-Essen leisten können, gibt es ja Fleischlaberl-Semmeln einer Fastfoodkette.“ Man sagt nicht wie damals: „Gewerkschaften sind für die Wirtschaft schädlich.“ Man empfiehlt „Lohnzurückhaltung“ anstelle von Inflationsbekämpfung. Man hält soziale Sicherheit für Gnade, nicht für ein Menschenrecht.

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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