Die EU ist langsam weggekommen
vom reinen liberalen Wirtschaftsdenken.
Der Brexit war für viele ein Schock.
Da haben fast alle erkannt,
eine falsche oder einseitige Politik kann
nach hinten losgehen.
Wolfgang Katzian,
Präsident des ÖGB und des EGB
Das ermöglicht es rechtspopulistischen und extremistischen Parteien, ihre Schauermärchen über die EU zu erzählen – denn wer weiß schon im Detail, was genau Sinnvolles oder Sinnloses aus den Brüsseler Institutionen kommt? Wer weiß überhaupt genau, wie die Zahnräder der Institutionen ineinandergreifen, wer was tut im Mehrebenensystem heutigen Regierens zwischen Kommission, Rat, EU-Parlament, nationaler Regierung, heimischem Parlament und den verschiedenen Beamtenschaften?
Nur wenige haben deshalb mitbekommen: Zuletzt ist in der Europäischen Union ordentlich etwas vorangegangen. Vieles hat sich zum Besseren verändert – zäh, langsam, mühselig, Trippelschritt für Trippelschritt. Aber es hat sich auch etwas Fundamentaleres verändert, der Geist nämlich, oder wie man so gerne sagt, der „Spirit“.
Heilsamer Schrecken
„Es hat sich das vorherrschende Narrativ verändert“, sagt Torsten Müller, Forscher am Europäischen Gewerkschaftsinstitut in Brüssel, es gab in den letzten sechs, sieben Jahren „einen merkbaren Paradigmenwechsel“. Der betrifft vor allem die Wirtschafts-, Sozial- und die Finanzpolitik. Mehr noch: Es ist ein merkbarer Wandel des „Zeitgeistes“.
Wolfgang Katzian, der Präsident des ÖGB und seit dem Vorjahr auch Präsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes, sieht das ähnlich: „Die EU ist langsam weggekommen vom reinen liberalen Wirtschaftsdenken.“ Auslöser, so Katzian, war dafür insbesondere „der Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der Union. Das war für viele ein Schock. Da haben fast alle erkannt, eine falsche oder einseitige Politik kann nach hinten losgehen“. Ein heilsamer Schrecken.
Der Unterschied ist frappierend, vergleicht man den bestimmenden Zeitgeist und die Politik der vergangenen Jahre etwa mit dem Beginn der 2010er-Jahre. Die Bankenkrise von 2008 hatte das gesamte internationale Finanzsystem beinahe kollabieren lassen, war dann aber in der Eurozone in die „Eurokrise“ und eine Staatsschuldenkrise übergegangen. Erst hat man mit astronomischen Beträgen die Banken gerettet und die Wirtschaftskrise bekämpft, als aber die Zinsen für die Staatsschulden manche Länder in Bedrängnis brachten, wurde ein harter Sparkurs verhängt, die „Austeritätspolitik“. Spekulant:innen wetteten sogar auf den Bankrott einzelner Euro-Länder. In die Europäische Union zog Hader ein, was die Union beinahe zerbrechen hat lassen. Südeuropäische Länder wie Griechenland, aber auch Portugal und Spanien mussten ihre Budgets zusammenstreichen. Die nordeuropäischen Länder machten einen zwar weniger rigiden, aber spürbaren Sparkurs. Das Ergebnis: erst eine ökonomische Talfahrt, dann Jahre der Stagnation.
Beschäftigungsfeindliche Reformen
Die Wirtschaftsleistung des Jahres 2007 wurde in der Eurozone wegen dieser Politik erst zehn Jahre später wieder erreicht. Dieser langfristige Wachstumskollaps hat bis heute EU-Bürger:innen durchschnittlich 3.000 Euro jährlich gekostet (!), so eine jüngste Studie der „New Economics Foundation“. Aber nicht nur die harten ökonomischen Auswirkungen der Austeritätsjahre haben der EU zugesetzt, es waren auch die mentalen Verwerfungen: In der Krise haben die Mitgliedsländer gegeneinander statt solidarisch agiert, sich wechselseitig beschuldigt – die einen wurden als „unsolide“ oder „faul“ runtergemacht, die anderen als unsolidarische Sparhengste angesehen, die außerdem anderen etwas anschaffen wollen.
Die einen Schulmeister, die anderen faule Säcke – so lauteten die moralisierten Vorwürfe. Mit dieser rigiden Sparpolitik ging auch eine radikale neoliberale Sozialpolitik einher. Renten und Sozialsysteme wurden zusammengestrichen, die Gewerkschaften bekämpft, Kollektivvertragssysteme untergraben. Die Idee dahinter: Würden Mindestlöhne sinken und die Einkommen nach unten gehen, dann würden für die Firmen die Arbeitskosten sinken und sie wären wieder „wettbewerbsfähiger“. Das nannte man damals tatsächlich „beschäftigungsfreundliche Reformen“. Kein Wunder, dass das Wort „Reform“ in den Ohren vieler Bürger:innen etwas Bedrohliches gewann: Hatte man einstmals unter Reform eine Verbesserung verstanden, brachten Reformen in der neoliberalen Ära vornehmlich Verschlechterungen. Aber dieser Geist ist jetzt beinahe schon vergessen und ein neues Paradigma hat sich herausgebildet.
Bemerkenswerte Meilensteine
„Ab 2015 etwa hat sich der Diskurs verändert“, sagt auch Sophia Reisecker, die Europapolitik-Expertin der GPA. Und es ist nicht nur eine atmosphärische Veränderung vorherrschender „Weltbilder“. Es hat auch ganz konkrete Auswirkungen. Mit einigen bemerkenswerten Meilensteinen. Einer davon ist die „EU-Mindestlohnrichtlinie“, ein großer wirtschafts- und sozialpolitischer Wurf. Grob gesagt sind in diesem EU-„Gesetz“ mehrere Dinge geregelt: Jedes EU-Land soll entweder einen gesetzlichen oder einen kollektivvertraglichen Mindestlohn einführen, der bei rund 60 Prozent des jeweiligen Medianeinkommens oder 50 Prozent des Durchschnittseinkommens liegen soll. Staaten, die dieses Ziel nicht erreichen, müssen Pläne ausarbeiten, wie sie das Ziel schaffen wollen. Außerdem sollen 80 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse einem Tarifvertrag unterliegen und entsprechend entlohnt sein. Ziel davon sind nicht nur höhere Einkommen, sondern auch eine Stärkung von Gewerkschaften.
Eine spektakuläre Kehrtwende, auch in der ökonomischen Grundphilosophie: Vor zwölf, dreizehn Jahren wollte man noch Gewerkschaften schwächen, um Lohndruck nach unten zu erzeugen und Unternehmen mit niedrigeren, also „wettbewerbsfähigeren“ Kosten beglücken. Heute erachtet man steigende Löhne und den Schutz der schwächsten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als eine Voraussetzung für eine prosperierende Wirtschaft.
Starkes Argument für die Gewerkschaften
Die Richtlinie wird jetzt nach und nach in den Mitgliedsstaaten umgesetzt. Gewiss, wenn eine Regierung sie nur als Ziel am Papier formuliert und nichts tut, damit höhere Mindestlöhne durchgesetzt werden, dann muss sie keine nennenswerten Sanktionen fürchten, keine Strafzahlungen. Es wird auch keine Polizei aus Brüssel geschickt. „Aber die Richtlinie macht Druck und gibt den Gewerkschaften auch ein starkes Argument in die Hand“, sagt Torsten Müller. „Man sieht, besonders in den ost- und mitteleuropäischen Ländern, dass sie schon vor ihrer formellen Umsetzung Einfluss hat. So wurde in Kroatien der Mindestlohn um rund 20 Prozent angehoben.“ Auch die Zielsetzung, dass 80 Prozent aller Beschäftigten in ordentlichen, tarifvertraglich gebundenen Verhältnissen sein sollen, hat es in sich: Heute liegen 19 der 27 EU-Staaten unter dieser Marke. Gewerkschaftsfeindliches Verhalten (das berühmte „Union-Busting“), oder dass Firmen etwa Kollektivvertragverhandlungen torpedieren, wird somit mindestens stigmatisiert.
Ein Paket gegen die Krise
Ein neues Denken ist eingezogen. Und dieser neue, progressive Spirit zeigte sich insbesondere auch während der permanenten Polykrisen der vergangenen fünf Jahre. Hatte man in der Finanzkrise die Hauptopfer noch im Regen stehen lassen, so setzte sich während der Corona-Krise eine ganz andere Haltung durch. Statt brutaler Sparpolitik wie seinerzeit, unterstützten auch die EU-Institutionen eine Wirtschaftspolitik, die die Konjunktur stützte.
„Im Vergleich mit der Finanzkrise war das ein Meilenstein der Krisenbekämpfung“, sagt Oliver Röpke. Der frühere Leiter des ÖGB-Europabüros ist heute Präsident des „Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses“, also gewissermaßen des gesamteuropäischen Sozialpartner-Gremiums. In dem sitzen vornehmlich Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen und zudem verschiedene Repräsentant:innen der Zivilgesellschaft. Worauf Röpke anspielt, ist der „Europäische Wiederaufbaufonds“, mit dem die Verheerungen der Corona-Pandemie bekämpft wurden. Die EU-Staaten haben sich gemeinsam dafür entschieden, 750 Milliarden Euro auf den Finanzmärkten aufzunehmen, und davon 390 Milliarden an Zuschüssen und 360 Milliarden an günstigen Krediten an die Mitgliedsstaaten weiterzugeben. Staaten, die besonders unter der Pandemie gelitten hatten – wie beispielsweise Italien – haben am meisten bekommen.
Wir haben in den vergangenen Jahren sehr
Erstaunliches erlebt: Die Kommission
hat progressive Vorschläge gemacht,
das EU-Parlament hat das stark unterstützt.
Und die Regierungen haben es im
Europäischen Rat dann häufig verwässert.
Sophia Reisecker, Europaexpertin der GPA
Die Gelder wurden besonders für Zukunftsinvestitionen verwendet, also etwa für den ökologischen Umbau der Energie- und Heizinfrastruktur, für innovative Betriebe in diesen Bereichen und für Digitalisierung. Damit wurde nicht nur die Konjunktur gestützt, es wurde auch verhindert, dass die Gesundheitskrise gleich wieder in eine Staatsschuldenkrise der gebeutelten Länder umschlug. Zudem wurde die Zustimmung zur EU gestärkt, vor allem in jenen Ländern, die besonders merkbar profitierten. Aber auch in Österreich wurde beispielsweise die Einführung des Klimatickets unterstützt. Rund vier Milliarden Euro kamen Österreich insgesamt zugute. Abgerufen wurden, wie dieser Tage bekannt wurde, europaweit allerdings gerade erst einmal ein Drittel der Mittel. Die EU-Finanzminister ziehen jetzt erste Bilanz.
Ein Wendepunkt für die EU?
„Es war notwendig, schnell zu handeln und auch mit einem großen Paket gegen die Krise vorzugehen, denn sonst verlieren alle an Vertrauen und dann herrscht schnell Panik“, beschrieb der damalige deutsche Finanzminister – und heutige Bundeskanzler – Olaf Scholz den wegweisenden Beschluss. Das Paket, so Scholz, ist aus der Krise geboren, führe aber zu einem weiteren „Zusammenwachsen der europäischen Staaten“.
Wie durchschlagend der „Wiederaufbaufonds“ letztlich war, darüber herrschen unterschiedliche Auffassungen. Teilweise flossen die Gelder einfach in die Unterstützung von Hausbesitzer:innen, die ihre Heizung modernisierten, teilweise in echte Zukunftsinvestitionen, teilweise auch in Regierungspläne, die sowieso schon länger geplant waren. „Abschließend kann man das noch gar nicht wirklich beurteilen“, merkt Oliver Röpke an. „Aber es war ein Gegenmodell zur Austerität, und das ist in jedem Fall ein Erfolg.“
„Ein historisches Abkommen“, sei das gewesen, formulierte die Starökonomin Mariana Mazzucato, „ein Wendepunkt für die EU.“ Es habe sich endlich die Einsicht durchgesetzt, dass die europäischen Nationen strategische Investitionen vornehmen müssen, um die prosperierende Wirtschaft von morgen zu gestalten. „Von der Austerität zur Investition“, so Mazzucato, das ist gewissermaßen die Kehre, die die Europäische Union genommen habe.
Viele Kritiker:innen hätten das von den EU-Institutionen nicht erwartet, denn die EU-Strukturen, so das häufig gehörte Lamento, begünstigten neoliberale Politik. Dieses Europa sei doch ein „Europa der Konzerne“, wie es in einer bekannten Phrase heißt. Praktisch immer wird Dumping nach unten betrieben, aber Regeln, die gemeinsame Sozialstandards oder Arbeitsrechte heben, seien fast nicht durchsetzbar – allein schon deshalb, weil sich immer eine Regierung finde, die blockiere.
Angst vor Sparpolitik 2.0
„Klar“, sagt Wolfang Katzian, der ÖGB-Präsident, „die bestehenden Strukturen sind sehr zementierend.“ In den vergangenen Jahren hat sich viel zum Besseren verändert, aber viele Beobachter:innen fürchten, dass das nur eine Episode bleiben könnte – auch Katzian hat diese Sorge. Die strengen Fiskalregeln der EU, die Staaten zu überstürzten Budgetkürzungen zwingen können, waren ja nur wegen der Corona-Pandemie und der Polykrisen ausgesetzt. Sie sollen jetzt reformiert werden, das Regelwerk ist schon ausgearbeitet. „Die Austerität ist zurück“, schlagen nicht nur linke Kritiker:innen Alarm. Auch Grüne im Europaparlament und Gewerkschafter:innen laufen Sturm. Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, erklärt im Interview dazu: „Jetzt auf eine rigide Sparpolitik zu setzen, wäre ein kapitaler Fehler.“
Die Budgetdefizite müssen zurückgefahren werden, wichtige Zukunftsinvestitionen werden erschwert. Zugleich ist auch noch die deutsche Regierung, üblicherweise eine Konjunkturlokomotive in Europa, durch die „Schuldenbremse“ und ein Verfassungsgerichtsurteil in ein enges Korsett gezwängt. Der FDP-Finanzminister Christian Lindner, ein eiserner Ideologe, drängt europaweit auf „Haushaltsdisziplin“ und damit auf strenge Regelauslegung. „Man kann das jetzt schon ziemlich sicher sagen“, so Wolfgang Katzian: „Der Großteil der Staaten wird sparen müssen.“
„Jetzt auf eine rigide Sparpolitik zu setzen, wäre ein kapitaler Fehler. Wir brauchen eine Politik der Solidarität und keine Politik, die den Sozialstaat abbaut.“ @NicolasSchmitEU, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, im großen Interview. 👇https://t.co/kB8fGvx2fx
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) May 23, 2024
Durch die Finanzregeln besteht die Gefahr einer „Austeritätspolitik 2.0“, wie sie von Kritiker:innen schon genannt wird. Und wenn plötzlich nicht nur ein oder zwei Staaten, sondern die Mehrheit der Euro-Länder Leistungen für Unternehmen, Transfers für Bürger:innen und Investitionen kürzen – dann weiß man jetzt schon, was das bewirken wird: eine Spirale nach unten.
Ungemach abwehren
Es ist nicht das einzige Ungemach. Steigende Kosten, etwa bei den Energiepreisen, belasten Unternehmen tatsächlich und gefährden Arbeitsplätze, vor allem im produzierenden Bereich. Unternehmensvertreter:innen nützen diese Alarmstimmung aber auch aus, um vor dem Verlust von „Wettbewerbsfähigkeit“ zu warnen und alle Verbesserungen für die Beschäftigten zu bekämpfen, da diese zusätzliche Kosten verursachen können.
Der politische Rechtsruck, der bei den Europawahlen befürchtet wird, wirft schon seine Schatten voraus. Auch Regierungswechsel in den Mitgliedsstaaten haben ihre Auswirkungen. In Finnland wird ein harter Sparkurs gefahren, und um den Widerstand von Gewerkschaften zu erschweren, wird sogar über die Einschränkung des Streikrechts diskutiert. Lobbyist:innen der Wirtschaftsverbände wittern ihre Chance, etwa die Kürzung von „Lohnnebenkosten“ zu erzwingen – und damit eine Durchlöcherung des Sozialstaats. Alles unter der Parole der „Wettbewerbsfähigkeit“ europäischer Unternehmen, die bedroht sei.
„Wir haben in den vergangenen Jahren sehr Erstaunliches erlebt“, sagt Sophia Reisecker, die GPA-Europaexpertin: „Die Kommission hat progressive Vorschläge gemacht, das EU-Parlament hat das stark unterstützt. Und die Regierungen haben es im Europäischen Rat dann häufig verwässert.“ Der sozialpolitisch fortschrittliche Geist in Brüssel kann aber mit einer neuen Kommission schnell Vergangenheit sein.