Der Staat, den keiner wollte: So wird die demokratische Republik der Jahre 1918 bis 1933 oft charakterisiert. Als Begründung dient der Verweis darauf, dass sie als „Republik Deutsch-Österreich“ proklamiert wurde und erst der Friedensvertrag von St. Germain mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs 1919 den Anschluss an die Deutsche Republik verbot. Die GewerkschafterInnen, die in der „österreichischen Revolution“ von 1918 und in der Zeit der Gründungsregierung eine führende Rolle spielten, beurteilten aber ihren neuen Staat nach einem anderen „Wertesystem“, wie es Ferdinand Hanusch so berührend formulierte.
Soziale Demokratie
Ob der erhoffte „Anschluss“ kommen sollte oder nicht, entscheidend blieb das Ziel einer parlamentarischen Demokratie, ergänzt um demokratische Mitbestimmung in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und mit sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. „Soziale Demokratie“ nannte man das damals, heute würden wir „Sozialstaat“ dazu sagen. Die Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg, sein Zerfall und die Transformation Österreichs zu einer echten Demokratie schienen die Chance zu bieten, dem Ziel ein gutes Stück näher zu kommen. Die Gewerkschaftsbewegung verfolgte es konsequent, obwohl die Rahmenbedingungen alles andere als günstig waren.
Österreich hatte seine wichtigsten Industriezentren und Kohlereviere an die neue tschechoslowakische Republik verloren, auch die ungarischen Lebensmittellieferungen blieben aus, die Menschen hungerten und froren, viele Betriebe mussten die Produktion einstellen und wegen des Kohlemangels fuhren kaum Züge. Am schlimmsten war die Lage in Wien, denn am Land konnten sich die Bewohner nicht gut, aber doch selbst versorgen.
Dass nicht noch mehr Menschen verhungerten und froren, verdankte Wien in hohem Maß gelebter internationaler Solidarität. Edo Fimmen, der Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbunds, startete eine Hilfsaktion in den IGB-Mitgliedsgewerkschaften. Die skandinavischen ArbeiterInnen machten freiwillig Überstunden und spendeten den so erarbeiteten Lohn, in den Niederlanden wurde am freien zweiten Weihnachtsfeiertag für Österreich gearbeitet und auch die englischen ArbeiterInnen beteiligten sich an der Hilfsaktion. Selbst in Deutschland sammelte der Gewerkschaftsbund trotz der eigenen Not Geld für die ArbeitnehmerInnen im Nachbarland.
Licht am Horizont
Dass die junge Republik trotz aller Schwierigkeiten schon nach wenigen Jahren Licht am Horizont sah, hatte sie nicht zuletzt den Gewerkschaftern zu verdanken, die immer wieder entscheidenden Einfluss nahmen. Das galt für Ferdinand Hanusch als Leiter des Sozialressorts ebenso wie für den Metallarbeiter Franz Domes, der Hanusch als Vorsitzendem der Reichskommission der Freien Gewerkschaften nachfolgte und ab 1921 erster Präsident der Arbeiterkammer für Wien und Niederösterreich war.
Domes war als Gewerkschaftsvertreter Mitglied des Staatsrats. Dieser war vom Gründungsparlament, der provisorischen Nationalversammlung, bestellt worden, ihm unterstanden die Staatsämter und auch Staatskanzler Karl Renner. Jakob Reumann, der als junger Arbeiter die Drechsler organisiert hatte, leitete als Bürgermeister die Entwicklung des „Roten Wien“ zum sozialstaatlichen Modellland ein.
Nach den ersten demokratischen Parlamentswahlen 1919 erhielten viele sozialdemokratische freie GewerkschafterInnen ein Abgeordnetenmandat in der konstituierenden Nationalversammlung. Unter den Mandataren der christlichsozialen Partei befanden sich nur wenige christliche Gewerkschafter. Bei diesen Wahlen durften Frauen erstmals wählen und kandidieren, weil der Metallarbeiter Johann Schorsch als Gewerkschaftsvertreter gegenüber dem zögernden Staatskanzler Renner darauf bestanden hatte. Im sozialdemokratischen Klub bildeten die GewerkschafterInnen eine eigene Fachsektion zur Ausarbeitung von Gesetzesanträgen.
Sie mischten ganz bewusst in der Politik mit, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Denn München und Ungarn waren zu Räterepubliken geworden, die den Kapitalismus als Gesellschafts- und Wirtschaftssystem sofort beseitigen wollten. Die Profiteure einer unkontrollierten Marktwirtschaft fürchteten ein Überschwappen dieser Revolution auf Österreich und betrachteten Zugeständnisse bei arbeits- und sozialrechtlichen Eingriffen in die Marktfreiheit und in ihre „Herrenrechte“ als das kleinere Übel.
Anton Hueber, der leitende Sekretär der freigewerkschaftlichen Kommission, beschrieb die Rolle, welche die Gewerkschaften in der Epoche des demokratischen Aufbruchs für sich sahen so: „Mit der Vergangenheit müssen wir brechen und müssen den Weg gehen, der uns durch die Entwicklung gewiesen ist, um endlich mit Hilfe der gewerkschaftlichen Organisation zur wirtschaftlichen Demokratie zu gelangen. Wir haben uns nicht organisiert, um bloß höhere Löhne zu bekommen, unsere Arbeit muss einem höheren Ziel dienen.“
Volle Gleichberechtigung
Noch während des Krieges hatte Hueber zusammen mit Karl Renner als Mitglied des „Ausschusses für Kriegs- und Übergangswirtschaft“ im kaiserlichen Handelsministerium die Errichtung einer „Paritätischen Industriekommission“ durchgesetzt.
Diese sollte die industrielle Abrüstung und den wirtschaftlichen Aufbau der Nachkriegszeit vorbereiten und steuern. In dieser Kommission verhandelten „die freien Kampforganisationen der Arbeiter und Industriellen“, also die Vertreter der Industriellenvereinigung und der Gewerkschaftskommissionen, in voller Gleichberechtigung. Die schon lange bestehenden gesetzlichen Interessenvertretungen der Unternehmer, die Handelskammern, waren nicht eingebunden, weil es die Arbeiterkammern als ihr Gegenstück noch nicht gab und damit eine gleichberechtigte Verhandlungsposition beider Seiten nicht gewahrt gewesen wäre. Die Kommission bereitete zum Beispiel die Einführung der Arbeitslosenunterstützung und des Achtstundentags vor. Sie sorgte so dafür, dass man sich in den Unternehmen auch an die neuen Gesetze hielt.
Revolutionäres Arbeitsrecht
Der Achtstundentag war eine der ersten Forderungen der Gewerkschaftsbewegung, die Arbeitslosenversicherung ein neuer Weg, aber für ihre Ausformung spielten Erfahrungen aus der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung eine wichtige Rolle. Die beiden Gesetze waren Teil der sozialpolitischen Offensive, die 1918 bis 1920 vom Hanusch-Ministerium ausging und die Grundlage für den Ausbau des österreichischen Sozialstaats nach 1945 legte. Etliche der Sozialgesetze – wie das Krankenversicherungsgesetz – gab es schon in der Monarchie, sie wurden jetzt modernisiert und galten endlich für fast alle ArbeitnehmerInnen.
Als „revolutionär“ kann das neue kollektive Arbeitsrecht bezeichnet werden: Rechtsverbindlichkeit von Kollektivverträgen, Betriebsräte als gewählte Belegschaftsvertretung und Arbeiterkammern mit dem Recht auf Selbstverwaltung, das bisher nur den Unternehmern zugestanden worden war.
Anhänger der „Marktfreiheit“ bekämpften diese Mitbestimmungsrechte schon bald als „sozialen Schutt“. Sie fanden ab 1921 in den rechten Koalitionsregierungen Verbündete, die das Experiment „soziale Demokratie“ vorläufig stoppen konnten. Ein rigoroses Sparprogramm vernichtete den gerade beginnenden Aufschwung.