Wann, wenn nicht jetzt?

Zwei Muffins mit Europa-Flagge. Eine wird von einer Faust zerdrückt. Symbolbild für die EU.
Der Kampf um die Demokratie in der EU geht weiter. | © Markus Zarahdnik
Demokratie ist weltweit bereits ein Minderheitenprogramm. Auch in Europa spüren Gewerkschaften, wie politischer Druck ihre tägliche Arbeit erschwert. Ein streitbarer Aufruf zum Kampf um unsere Demokratie von Marcus Strohmeier, internationaler Sekretär des ÖGB.
Kommendes Jahr stehen wieder die Wahlen zum Europäischen Parlament auf der Agenda: Millionen Bürger:innen in den 27 Mitgliedsstaaten sind aufgerufen, sich an der nach Indien weltweit zweitgrößten demokratischen Wahl zu beteiligen. Immerhin geht es dabei um die legislative Versammlung von annähernd einer halben Milliarde Menschen. Da könnte man annehmen, dass gerade diesem Wahlgang in allen Teilstaaten der Union besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Im Gegenteil: Selbst Medien, die sich oft als besonders kritisch erweisen, widmen der Wahl nicht die eigentlich gebührende Aufmerksamkeit. Ähnlich uninteressiert reagieren Politiker:innen in den einzelnen Mitgliedsstaaten, allerdings oft aus politischem Kalkül.

Rechts schlägt Wurzeln, die Demokratie leidet

Europas politisches Denken verändert sich gerade massiv. Ein schon vor mehr als zwei Jahrzehnten begonnener Prozess, der Aufstieg nationalkonservativer, identitärer und auch offener rechtsextremer Politik verfestigt sich nicht nur im täglichen politischen Diskurs, sondern beginnt auch gesellschaftlich Wurzeln zu schlagen. Vor einigen Jahren noch war Viktor Orbàns politisches Experiment der von ihm selbst deklarierten „illiberalen Demokratie“, vielleicht mit Ausnahme Polens, eine Randerscheinung. Doch vor allem konservative Parteien richten sich politisch offen nach rechts aus. Längst ist diese Tendenz nicht mehr als „Rückholaktion“ rechter Wähler:innenstimmen begründbar, es ist vielmehr der Ausdruck eines sich abzeichnenden gesellschaftspolitischen Wandels in Europas Bevölkerung. Der Abstieg linker und linksliberaler Parteien, die traditionell zu den Verbündeten der Gewerkschaftsbewegung zählen, unterstreicht diesen Wandel eindrucksvoll. Damit verbunden ist schließlich auch ein spürbarer Abbau sozialer Rechte und die steigende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Forderungen nach neuen sozialpolitischen Entwicklungen werden ertränkt in den vorgeblich krisenbedingten Sparmaßnahmen.

Populistische Almosen

Regierungen sind dazu übergegangen, Menschen Almosen zu verteilen – Heizkostenzuschuss, Mietkostenstütze etc. Die Errichtung neuer Sozialmärkte wird als große sozialpolitische Maßnahme gepriesen und soll das Elend der wachsenden Gruppe Bedürftiger künstlich kaschieren. Grundsätzlich gesehen ist diese Art des Handelns selbstverständlich nichts Neues, sondern die Fortsetzung bürgerlicher Politik des 19. und 20. Jahrhunderts.

Forderungen nach neuen sozialpolitischen
Entwicklungen werden ertränkt in den
vorgeblich krisenbedingten Sparmaßnahmen. 

Markus Strohmeier, internationaler Sekretär des ÖGB

Eine konsequente Antwort darauf müsste eigentlich, wie schon vor hundert Jahren, eine Stärkung des Sozialstaats sein. Um den dafür notwendig gewordenen Druck zu erzeugen, fehlt es den europäischen Gewerkschaften aber vielerorts bereits an der notwendigen Stärke. Drei Jahrzehnte wirtschaftsliberaler Politik haben Europas gewerkschaftliche Kräfte nachhaltig geschwächt. Nicht nur sind die politischen Partner:innen, vor allem auf Regierungsebene, verloren gegangen, sondern die geförderte Entsolidarisierung hat zu einer Mitgliederstagnation oder sogar zu einem beträchtlichen Verlust von Mitgliedern geführt.

Fatale Allianzen

In den sogenannten neuen EU-Ländern Mittel- und Osteuropas reduzieren sich die Gewerkschaften immer mehr auf Arbeitnehmer:innen-NGOs mit schwächer werdenden politischem und vor allem gesellschaftspolitischem Einfluss. Nicht nur das schwere kommunistische Erbe lastet auf den mitgliedsschwachen Verbänden, sondern auch eine Perspektivlosigkeit gepaart mit internen Defiziten führen zunehmend in die Bedeutungslosigkeit. Die daraus resultierende Schwäche festigt augenscheinlich die unternehmerfreundliche Politik der Regierungen. Im Extremfall kommt es aber auch zu Kooperationen zwischen Gewerkschaften und anti-demokratischen Parteien. Auch auf diesem Weg können Erfolge erzielt werden, so wie etwa im katholischen Polen, wo der arbeitsfreie Sonntag wieder ein geführt und die Familienbeihilfen erhöht wurden. Der Preis für solche vermeintlichen Errungenschaften ist allerdings ein sehr hoher: Wenn auch die Gewerkschaften den Wert der Demokratie nicht mehr als zentrale Grundlage ansehen, wird der gesellschaftliche Wandel nach rechts noch wahrscheinlicher.

Trügerischer Hoffnungsschimmer am Firmament der Demokratie

Blickt man hingegen in den Westen und Süden Europas, verfügen die Arbeitnehmer:innenvertretungen scheinbar noch über einen beträchtlichen Handlungsrahmen. Hier können sie tatsächlich noch zu breiten Streik- und Protestbewegungen mobilisieren. Allerdings stoßen mittlerweile auch bewährte Kräfte wie die französischen, italienischen oder spanischen Gewerkschaften an ihre Grenzen. Die Regierenden, allen voran Frankreichs Präsident Macron, ignorieren die Proteste weitestgehend und hoffen auf die rasche Erschöpfung der Protestierenden. Europas Gewerkschaften müssen daher den Schulterschluss mit sämtlichen demokratischen Kräften suchen, ob aus der Zivilgesellschaft oder auch in Regierungen. Die in den 1960er-Jahren aus Skandinavien kommende und von Kreisky in Österreich und Brandt in Deutschland gerne übernommene Politik des „Durchflutens der Gesellschaft mit Demokratie“ benötigt dringend ein „Revival“. Gerade die neue digitale und auf allen Ebenen mit künstlicher Intelligenz konfrontierte Gesellschaft braucht demokratische Antworten auf künftige Entwicklungen.

Frieden erkämpfen

Die lebhafte und wehrhafte Demokratie ist die „Luft zum Atmen“, die Gewerkschaften, aber grundsätzlich alle Demokratinnen und Demokraten so dringend brauchen. Nur sie kann das Fundament für eine positive Entwicklung Europas bilden. Von ihr ausgehend sind auch die Verbesserungen für die Menschen unseres Kontinents zu erkämpfen und zu erarbeiten. Sie ist auch die Grundlage für den ersehnten Frieden, den wir so dringend benötigen, und sorgt auch für dessen Bestand. Die kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament sind daher demokratiepolitisch keine Nebensache, sondern ein zentraler Faktor für unsere gemeinsame Zukunft. Europas Gewerkschaften und mit ihnen alle Demokrat:innen sind gefordert, dafür zu sorgen, dass auch künftige Generationen in einer demokratischen Union arbeiten und leben können.

Über den/die Autor:in

Marcus Strohmeier

ist Politikwissenschaftler, Historiker und geht als internationaler Sekretär im ÖGB gern über die Grenzen Europas

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