Demokratie der ArbeitnehmerInnen

Warum Demokratie gerade für ArbeitnehmerInnen historisch ein wichtiges Ziel war und was das mit der Selbstverwaltung zu tun hat.
In einer Demokratie herrscht das Volk – das sagt bereits der Name, der sich aus den altgriechischen Wörtern demos und kratós zusammensetzt und so viel bedeutet wie Herrschaft des Volkes. Und dieses Volk besteht zu einem großen Teil aus ArbeitnehmerInnen. Im allgemeinen politischen Kontext bedeutet Demokratie Mitbestimmung in den großen Fragen, die das Land bewegen. Zudem geht es in der Demokratie aber auch um die Rechte, die jeder bzw. jede Einzelne in Österreich hat – egal ob UnternehmerInnen, ArbeiterInnen, Angestellte, freie DienstnehmerInnen, Lehrlinge, PensionistInnen oder Arbeitslose.

Demokratie bedeutet Mitbestimmung in den großen Fragen, die das Land bewegen.

Es war jedoch nicht immer so, dass alle StaatsbürgerInnen eine Stimme hatten und mitentscheiden durften. So gab es im 19. Jahrhundert das Zensuswahlrecht, das bedeutete, dass nur jene Personen wahlberechtigt waren, die zumindest zehn Gulden an Steuern bezahlten. Zudem waren die Stimmen gewichtet: Wer mehr Besitz hatte, dessen Stimme zählte mehr. Es war ein weiter Weg zum allgemeinen Wahlrecht, wie wir es heute kennen; ein weiter Weg zu jenem Punkt, an dem jede und jeder ein Recht – und zwar dasselbe Recht – darauf hatte, mitzubestimmen.

Im Lauf der Geschichte haben sich die arbeitende Bevölkerung sowie ihre Interessenvertretungen immer wieder für die Rechte der ArbeitnehmerInnen eingesetzt.

Im Lauf der Geschichte haben sich die arbeitende Bevölkerung sowie ihre Interessenvertretungen immer wieder für die Rechte der ArbeitnehmerInnen eingesetzt. Und das war auch bitter nötig. Man denke nur an die verheerenden Arbeitsbedingungen der letzten Jahrhunderte: überlange Arbeitstage von bis zu 18 Stunden, kaum Erholungspausen oder Urlaube. Seither hat sich viel getan. Arbeitsbedingungen haben sich immer weiter zum Positiven verändert. Und auch ein wichtiges Netz zur sozialen Absicherung hat sich in Österreich etabliert: die Sozialversicherung, die unter dem Grundsatz der Selbstverwaltung eingeführt wurde.

Das unbekannte Wesen

Das bisherige Prinzip der Selbstverwaltung (vor Türkis-Blau):

Jene, deren finanzielle Ressourcen eingehoben werden, sollen selbst entscheiden, also verwalten, was damit geschieht.

Selbstverwaltung: Jemand – eine Person, Organisation, Institution – verwaltet sich selbst. Klingt einfach, wird aber komplex, wenn dabei unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen. Jene, deren finanzielle Ressourcen eingehoben werden, sollen selbst entscheiden, also verwalten, was damit geschieht. So die Theorie. Bis vor Kurzem war das auch gelebte Praxis. Doch das hat sich geändert: im Zuge der Reformen der ehemaligen türkis-blauen Regierung.

Unter Sozialversicherung versteht man die Absicherung des wirtschaftlichen Risikos beim Ausfall der Erwerbsfähigkeit.
Aber der Reihe nach: Was bedeutet Sozialversicherung überhaupt? Darunter versteht man die Absicherung des wirtschaftlichen Risikos beim Ausfall der Erwerbsfähigkeit. Was hier noch relativ abstrakt wirkt, bedeutet nichts anderes, als dass durch ein kollektives Versicherungssystem die Risiken von allen Versicherten getragen werden, wenn sie etwa krank sind oder ihren Arbeitsplatz verlieren. Die Finanzierung dieser Leistungen funktioniert mittels eines Umlageverfahrens. Das bedeutet, dass Leistungen nicht angespart werden, sondern stattdessen die heute Aktiven die Beiträge für die heute Anspruchsberechtigten leisten. Und das im Zuge des Solidaritätsprinzips, dessen Ausgleich zwischen Jung und Alt, zwischen Kranken und Gesunden sowie besser und weniger gut verdienenden Menschen dafür sorgt, dass die Versicherten eine solidarische Gemeinschaft bilden.

Zweige der Sozialversicherung:

  • Krankenversicherung
  • Unfallversicherung
  • Pensionsversicherung
  • Arbeitslosenversicherung
Kann also jemand aufgrund von Krankheit oder Mutterschaft nicht arbeiten, kommt die Krankenversicherung ins Spiel, die sowohl Sachleistungen – beispielsweise die medizinische Behandlung oder Pflege – als auch Geldleistungen in Form von Kranken- oder Wochengeld erbringt. Bei einem Arbeitsausfall, der durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit begründet ist, wird die Unfallversicherung aktiv. Und kann jemand aufgrund des Alters oder von Erwerbsunfähigkeit nicht mehr arbeiten, ist das ein Fall für die Pensionsversicherung. Im weiteren Sinne gehört auch die Arbeitslosenversicherung zur Sozialversicherung – mit dem Unterschied, dass sie nicht wie die anderen drei Bereiche in Selbstverwaltung, sondern in staatlicher Verwaltung des Arbeitsmarktservice steht.

Keine Weisungen

Doch was genau versteht man jetzt eigentlich unter Selbstverwaltung? Gemeint ist die Verwaltung durch die betroffenen Personengruppen selbst, also im Fall von Angestellten und ArbeiterInnen durch die Arbeitgeber- und ArbeitnehmervertreterInnen. Oder anders formuliert: Der Staat verwaltet diese Institutionen nicht selbst, sondern überträgt diese Aufgaben den sogenannten Selbstverwaltungskörpern. Diese werden aus VertreterInnen der unmittelbar betroffenen Personengruppen gebildet. Sie sind an keine Weisungen durch staatliche Behörden gebunden, der Staat aber behält sich ein Aufsichtsrecht vor.

Solidaritätsbewusstsein

Änderung 1 unter Türkis-Blau:

Einführung der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK): 21 Sozialversicherungsträger wurden auf 5 reduziert.

Das bringt einerseits den Vorteil, dass diese Verwaltung demokratisch und versichertennahe ist. Das stärkt auch das Solidaritätsbewusstsein. Andererseits kann sie auch unbürokratisch und entscheidungsfreudig agieren. Woran hat nun die letzte Regierung gerüttelt und zu welchen Verschlechterungen für ArbeitnehmerInnen ist es dadurch gekommen? Zunächst sei erwähnt, dass im Zuge der Sozialversicherungsreform die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) geschaffen wurde, wodurch die bisher 21 Sozialversicherungsträger auf fünf reduziert wurden. Bislang standen bei der Gesundheitsversorgung Werte wie Regionalität, Eigenverantwortung und Innovationskraft an oberster Stelle. Regional heißt: „nahe bei den Versicherten“, und das wiederum ist die Voraussetzung dafür, „flexible, der Region angepasste Lösungen zu finden“, so Manfred Brunner, Obmann der Vorarlberger Gebietskrankenkasse und stellvertretender Obmann der Pensionsversicherungsanstalt. Inwiefern die Versicherten von der geplanten Zentralisierung – und nichts anderes bedeutet die Zerschlagung der regionalen und damit den Bedürfnissen am besten angepassten Versorgungsstruktur – profitieren, entzieht sich jeglicher Logik.

Änderung 2 unter Türkis-Blau:

Das Machtgefüge innerhalb der Sozialversicherung hat sich verschoben: Bisher hatten die ArbeitnehmerInnen die Mehrheit, jetzt gibt es einen Gleichstand zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen.

Die wohl größte Änderung bezieht sich auf die Zusammensetzung jener Personengruppe, auf die diese Selbstverwaltung übertragen ist. Denn das Machtgefüge innerhalb der Sozialversicherung hat sich verschoben. Bisher waren es die ArbeitnehmerInnen, die in den geschäftsführenden Gremien der Gebietskrankenkassen die Mehrheit hatten. Das hat einen ganz entscheidenden Grund, denn um ihre Interessen geht es schließlich – und im Sinne der Mitbestimmung sollen sie auch ein entscheidendes Wörtchen mitzureden haben, was mit ihren Beiträgen geschieht. Im Zuge der Reform ist es nun allerdings zu einem Gleichstand zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen gekommen. Christoph Klein, Direktor der AK Wien und der Bundesarbeitskammer, verweist darauf, dass Arbeitgeber kein Eigeninteresse an guten Leistungen der ÖGK haben: „Erstens sind die Unternehmen naturgemäß daran interessiert, ihre Dienstgeberbeiträge zu senken, was den Druck erhöhen würde, auch die Leistungen zu reduzieren. Zweitens haben manche von ihnen ein Interesse, selbst gute Geschäfte zu machen, etwa durch Privatisierung im Gesundheitswesen.“

Zum Nachteil der ArbeitnehmerInnen

Was bedeutet diese Änderung nun langfristig? Entscheiden sich die VertreterInnen der Arbeitgeber beispielsweise dafür, Einsparungen vorzunehmen und die Leistungen zu kürzen, hat das negative Auswirkungen auf die Versicherten. Sie erhalten dadurch in den unterschiedlichsten Situationen nicht das, was sie eigentlich brauchen würden. Und wem nützt das? Man bedenke, dass Arbeitgeber auch Unternehmer sind, die am freien Markt ihre Geschäfte machen – in den unterschiedlichsten Branchen. Und natürlich sind einige davon in der Versicherungsbranche tätig. In einem Land, in dem alle gut abgesichert sind, ist die Nachfrage nach zusätzlichen Versicherungen nicht ganz so weit verbreitet. Sägt man jedoch an dieser gesetzlich vorgeschriebenen Absicherung für alle, profitiert vor allem der private Versicherungsmarkt.

Von diesen Änderungen profitiert vor allem der private Versicherungsmarkt.

„Das ist keine Reform. Das ist die bewusste Verhinderung eines funktionierenden Sozialstaats. Man will die interne Demokratie innerhalb der Sozialversicherung beenden“, kritisiert der ehemalige Gesundheitsminister Alois Stöger. Und was bedeutet das für unsere Demokratie? Wolfgang Panhölzl, Referent für Organisation und Finanzierung der Sozialversicherung und Pensionsrecht in der Abteilung Sozialversicherung der AK Wien, betont: „Demokratie hat auch immer etwas mit Zahlen und Verhältnissen zu tun.“ Und ganz ehrlich: Die sind hier ganz schön aus dem Gleichgewicht geraten.

Von
Beatrix Mittermann
Redakteurin des ÖGB-Verlags

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/19.

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Über den/die Autor:in

Beatrix Ferriman

Beatrix Ferriman hat internationale Betriebswirtschaft an der WU Wien, in Thailand, Montenegro und Frankreich studiert. Sie ist Autorin, Schreibcoach sowie freie Redakteurin für diverse Magazine und Blogs.

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