Schimäre freie Märkte
„Freie“ Märkte und weltweiter Wettbewerb würden nach dem Credo der EU-Kommission die Kosten der Produktion senken und dadurch den Wohlstand für alle steigern. Ob dies auch auf die Herstellung und den Handel von landwirtschaftlichen Rohstoffen und Nahrungsmitteln zutreffen kann, ist zu bezweifeln – vor allem dann, wenn in Entwicklungsländern und Industriestaaten völlig unterschiedliche wirtschaftliche, ökologische und soziale Bedingungen vorliegen. Für die Landwirtschaft vieler Entwicklungsländer ist der internationale Handel verheerend. Das vorrangige Ziel der Regierungen ist oftmals nur, durch Agrarexporte Devisen und Steuereinkommen zu lukrieren. Deshalb exportieren viele Länder Rohstoffe wie Soja, Mais, Zucker und Palmöl, die häufig unter menschenverachtenden Bedingungen und mit katastrophalen Auswirkungen für die Umwelt gewonnen werden. Diese billigen Exporte aus den Ländern des Südens sind Grundlage für die Nahrungsmittel-, Futter- und Treibstoffindustrie der Industrieländer. Die Versorgung der Bevölkerung und die heimischen Märkte in den Entwicklungsländern werden dabei aus den Augen gelassen. Als Importeure von Lebensmitteln sind sie oft zugleich von den Weltmärkten und deren Entwicklung abhängig.
Schwergewicht Zucker
Ein Beispiel ist der Zuckermarkt. Beinahe 50 Jahre lang war er streng reguliert und wurde bis zum Jahr 2017 schrittweise liberalisiert. Garantierte Abnahmepreise, Produktionsquoten und Beschränkungen des Importes gehören nun der Vergangenheit an. Nur die Importzölle wurden nicht angetastet. Die folgende Senkung der Garantiepreise führte zu erheblichen Einkommensverlusten und zu einem Rückgang der Produktion in vielen Ländern. Die EU wurde zu einem Nettoimporteur von Zucker. In der EU wurden die Betriebe zum Teil für die Verluste kompensiert, in vielen Entwicklungsländern aber gab es kaum einen Ausgleich. Massiv gestiegen ist die Produktion hingegen in Südamerika, insbesondere in Brasilien, in einigen ostafrikanischen Ländern und in Südostasien. Die in Aussicht gestellten positiven Effekte eines großflächigen Zuckerrohranbaus für Wirtschaft und Bevölkerung sind jedoch weitgehend nicht eingetreten. In vielen Regionen, wo die Zuckerproduktion rasant gewachsen ist, kam es zu Landraub, zu Umsiedelungen oder zu gewaltsamen Vertreibungen. Die Arbeit auf den Plantagen ist saisonal begrenzt, die Löhne reichen kaum zum Überleben, Menschrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. In vielen Ländern sind selbst sklavenartige Arbeitsbedingungen verbreitet.
Nicht weniger katastrophal sind die Effekte auf die Umwelt und Gesundheit der Menschen als Folge der Abholzung, des Pestizideinsatzes oder des enormen Wasserbedarfs. Laut dem „Water Footprint Network“ verbraucht die Herstellung von einem Kilogramm Zucker 1.783 Liter Wasser und für einen Liter Ethanol werden 2.100 Liter Wasser benötigt.
Zweifelhafter Sonderstatus
Viele afrikanische Länder erhielten von ihren ehemaligen Kolonialherren aus Europa einen Sonderstatus: Sie durften ihre Waren weitgehend zollfrei ausführen, während für Waren aus Europa Zölle zu zahlen waren. Die WTO urteilte später aber, dass diese einseitigen Zugeständnisse nicht rechtens sind und dass diese Vorteile durch „Freihandel“ zu ersetzen sind. Daher verhandelt die EU seit Längerem über Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit West-, Ost-, Zentral- und Südostafrika. Diese Abkommen werden kurz WPAs oder EPAs genannt – die TTIPs für die armen Länder Afrikas. Der Widerstand vieler afrikanischer Länder ist groß. Auf Druck der Weltbank und im Zuge der Verhandlungen über die EPAs haben viele afrikanische Länder den Forderungen ihrer Gläubiger nachgegeben und ihre Zölle schon vor Abschluss der Verhandlungen erheblich gesenkt.
Verarmung
Über die katastrophalen Folgen wurde zwar immer wieder medial berichtet, doch fanden diese Berichte wenig Resonanz: Europäische Exporteure überfluteten die Märkte in Afrika mit Milchpulver, Gemüsekonserven oder Hühnerteilen. In Ghana etwa verarmten viele Tausend Bauern oder verloren ihre Existenz. Ghanaische Betriebe konnten ihre Tomatenernte nicht mehr vor Ort vermarkten, weil sie nicht mit den billigen Importkonserven aus Italien oder Spanien konkurrieren konnten.
Dieser Wettbewerbsvorteil ergibt sich durch das ungleiche Kräfteverhältnis: Auf der einen Seite ein hochspezialisierter, großflächiger Anbau sowie modernste Hightechfabriken, die sich seit der Nachkriegszeit zunächst durch hohe Zölle geschützt und mithilfe von umfangreichen Subventionen in den verschiedensten landwirtschaftlichen Sektoren entwickeln konnten. Auf der anderen Seite kleinste Äcker und veraltete Produktionsmethoden.
Öffentliche Investitionen oder Subventionen in die Entwicklung des Agrarsektors wurden in vielen Entwicklungsländern in Afrika und den am wenigsten industrialisierten Regionen Asiens in den letzten 30 Jahren vernachlässigt. Unbeeindruckt hält die EU-Kommission aber an ihrer Handelspolitik und Ideologie fest: Liberalisierung und Öffnung der Märkte bringe die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Ländern des Südens voran.
Diese Ansicht ist insbesondere für den landwirtschaftlichen Sektor vor dem Hintergrund der verheerenden Auswirkungen mehr als fraglich. Die EU oder USA schützen selbst den Agrarsektor zum Teil noch mit Zöllen, zudem ist die Landwirtschaft subventioniert. Diese Subventionen sollen ungleiche Produktionsvoraussetzungen (wie zum Beispiel im Fall der Bergbauernförderung) oder die Wettbewerbsnachteile aufgrund der Größe und der hohen Umwelt-, Gesundheits- und Sozialstandards ausgleichen.
Neue Wege einschlagen
Solange das Kräfteverhältnis zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern unterschiedlich ist, sind der Landwirtschafts- und der Nahrungsmittelsektor jedenfalls aus Handelsabkommen auszuklammern. Entwicklungsländer dürfen nicht gezwungen werden, ihre Zölle zu senken, und es darf ihnen auch nicht verboten werden, durch Zollerhöhungen ihre Märkte zu schützen.
Zu bedenken ist, dass gerade für die Länder des Südens Zölle auch eine wichtige Einnahmequelle sind. Der Bedarf an öffentlichen Mitteln ist für die Schaffung von Institutionen bis hin zu entsprechenden Infrastrukturen – Brunnen, Straßen, Gesundheitsversorgung, Rechtsinstitutionen sowie Beratungs- und Bildungseinrichtungen – groß. Auch wo landwirtschaftliche Betriebe mehr produzieren könnten, passiert dies oft nicht, weil Lager- und Transportmöglichkeiten fehlen. Die schädliche Wirkung von Subventionen im Agrarhandel ist hinlänglich bekannt. Daher ist es der richtige Weg, direkte Ausfuhrsubventionen abzuschaffen. Was indirekte Subventionen betrifft, ist zu überlegen, wie dieser ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteil zum Beispiel durch Zölle seitens der Entwicklungsländer kompensiert werden kann.
Unternehmen dürfen nicht länger von menschenunwürdiger Arbeit und der Missachtung von Umweltschutz profitieren können. Abkommen brauchen daher klare Regeln für Betriebe sowie Klagemöglichkeiten für Geschädigte. Zudem sind Sozial- und Umweltstandards in Abkommen zu verankern, um Dumping weltweit zu verhindern – und um ArbeitnehmerInnen in Entwicklungsländern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Angela Pfister
Volkswirtschaftliches Referat im ÖGB
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/17.
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