1994 waren es insgesamt 21 gemeldete Fälle, die von ihr an die Chefetage weitergegeben wurden. Diese verschwieg allerdings alle Verdachtsmomente vor der Allgemeinheit, schlachtete weiter die erkrankten Rinder und brachte das Fleisch sogar in Umlauf und damit in die Supermärkte. Im November 1994 wollte die Tierärztin nicht mehr schweigen und ging mit einem Fernsehinterview an die Öffentlichkeit. Der Skandal war perfekt. Ganz Deutschland wusste binnen kürzester Zeit über die Zustände in dem Schlachthof Bescheid. Im Dezember desselben Jahres wurde Herbst fristlos gekündigt. Die Begründung: Verletzung der Verschwiegenheitspflicht.
Wirtschaftskriminalist:innen haben nachgewiesen, dass in jedem Unternehmen eine von 50 Personen zur Wirtschaftskriminalität neigt
Walter Gagawczuk, Referent für europäische Sozialpolitik der AK Wien
2001 erhielt die Veterinärmedizinerin dann den Whistleblower-Preis der Vereinigung Deutscher Wissenschafter für ihren Mut, sich an die Öffentlichkeit gewandt zu haben. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Um den Schutz solcher Whistleblower:innen zu verbessern, gibt es nun eine Richtlinie zum Schutz von Hinweisgeber:innen in der Europäischen Union.
Unternehmen sind gefordert
Es müssen nicht große Skandale sein, die jemand aufdeckt. Oftmals sind es Fälle von Diskriminierung, sexueller Belästigung oder rassistische Vorfälle am Arbeitsplatz, die nicht verschwiegen werden dürfen und sichtbar gemacht werden müssen. Deshalb wurde ein einheitliches Recht für die ganze EU geschaffen. Die Richtlinie zum Schutz von Whistleblower:innen richtet sich grob gesagt an alle Menschen in der Union. Seit 17. Dezember 2021 sind alle Gemeinden ab 10.000 Bewohner:innen und Unternehmen mit mindestens 250 Angestellten sowie Vereine und Genossenschaften verpflichtet, diese neue Richtlinie umzusetzen. Finanzunternehmen sind unabhängig ihrer Größe ebenfalls dazu verpflichtet, genauso wie Kleinstunternehmer:innen, bei denen der Jahresumsatz von 50 Millionen Euro überstiegen wird. Bis Ende 2023 sind auch die KMUs, also kleine und mittlere Unternehmen, mit einer Angestelltenzahl zwischen 50 und 250 Personen dazu angewiesen, Meldestellen für Hinweisgeber:innen einzurichten. Alle Unternehmen, die 50 oder weniger Personen im Personalstand haben, werden durch die EU lediglich dazu ermutigt.
„Wirtschaftskriminalist:innen haben nachgewiesen, dass in jedem Unternehmen eine von 50 Personen zur Wirtschaftskriminalität neigt“, sagt der Referent für europäische Sozialpolitik der AK Wien, Walter Gagawczuk, im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft.
Ob mangelnder Wille oder mangelnder Erfolg bei der Gesetzgebung bei der Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie ausschlaggebend ist, entzieht sich meiner Kenntnis
Franz Leidenmühler, Professor für Europarecht an der Linzer Johannes Kepler Universität (JKU)
In Österreich gibt es über 1.300 Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten. In diesen sollte es bereits jetzt Meldesysteme geben. 6.000 weitere Betriebe müssen sich in der Übergangszeit fit dafür machen. Doch Österreich ist wie viele andere EU-Länder nicht vorbildlich bei der Umsetzung dieser Richtlinie. „Ob mangelnder Wille oder mangelnder Erfolg bei der Gesetzgebung bei der Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie ausschlaggebend ist, entzieht sich meiner Kenntnis“, sagt der Professor für Europarecht an der Linzer Johannes Kepler Universität (JKU), Franz Leidenmühler.
„Endlich gibt es hier eine Vorgabe“
Schützen soll die Richtlinie jene Personen, die Hinweise geben. Sei es über vermutliche Wirtschaftskriminalität, über Preisabsprachen, Korruption oder Verstöße gegen den Umweltschutz. Der Verdachtsmoment eines möglichen Diebstahls von Firmeneigentum fällt ebenfalls darunter. Alle Menschen, die dazu Hinweise liefern, dürfen durch ihr Vorgehen keine Repressalien, wie beispielsweise eine Kündigung, befürchten müssen. Profitieren soll dadurch nicht nur die eigene Belegschaft, auch Leiharbeiter:innen, Geschäftspartner:innen, Lieferant:innen und Kund:innen sollen durch mehr Transparenz Vorteile haben, so die EU.
„Der Inhalt dieser Richtlinie ist absolut zu begrüßen, da der Schutz von Whistleblower:innen sehr weitreichend ist. Endlich gibt es hier eine Vorgabe zum Schutz von Hinweisgeber:innen, da das Risiko solcher Menschen natürlich groß ist“, meint Gagawczuk. Jedoch sieht der Experte auch einen möglichen Schwachpunkt: „Es steht zwar in der Richtlinie, dass die Staaten diese Vorgaben auf die jeweiligen nationalen Rechte ausdehnen sollen, aber es ist keine verpflichtende Vorgabe. Hier besteht die Gefahr, dass das unter Umständen nicht passiert, und dann wäre das nicht mal die halbe Sache. Wichtige Bereiche wie Korruption, Betrug, Untreue oder Urkundenfälschung würden somit gar nicht erfasst.“
Anonym wäre besser
Laut einer Ernst&Young-Befragung würde die Sicherheit, keine negativen Konsequenzen zu erleiden, in Österreich beinahe 62 Prozent stark ermutigen, ein nicht akzeptables Vorgehen im Unternehmen zu melden. Und weitere 28 Prozent meinen, dass es sie zumindest eher ermutigen würde. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass nur zehn Prozent eine Whistleblower:innen-Richtlinie für wenig relevant erachten. Einen sehr ähnlichen Wert gibt es, wenn die Möglichkeit bestünde, dabei anonym bleiben zu können.
Die EU fordert, dass Meldekanäle eingerichtet werden, um (anonyme) Hinweise geben zu können. Dafür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Es kann sich um Vorgesetzte handeln, an die man sich direkt wenden kann. Briefkästen in der Personalabteilung sind ebenfalls eine Variante. Es können auch Ombudsleute und Vertrauenspersonen sein, an die man sich bei einem Verdachtsfall wendet. In den USA sind es oftmals Telefon-Hotlines, die die Beschwerden entgegennehmen. Ideal sind digitale Hinweisgebersysteme. Also eine Software, in der man anonym das Problem oder eine mögliche Straftat melden kann. Speziell in der aktuellen Zeit, in der viel Home-Office stattfindet, würde dies einen niederschwelligen Zugang für die Beschäftigten schaffen.
Dieses Hinweisgebersystem gibt die Möglichkeit, mit einem anonym bleibenden Hinweisgeber über einen Postkasten zu kommunizieren
Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA)
Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist die Beweislastumkehr, um so Hinweisgeber:innen zu schützen. Das Unternehmen muss beweisen, dass eine Anschuldigung nicht der Wahrheit entspricht. Trifft das nicht zu, hat das Unternehmen ein Problem. Ein erfolgreiches Projekt startete die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) im Jahr 2013. Damals wurde ein anonymes Hinweisgeber:innensystem zur Korruptionsbekämpfung eingeführt. In den folgenden zwei Jahren waren es über 3.500 gemeldete Fälle, zu denen 400 Strafverfahren eröffnet wurden. Die WKStA schreibt dazu: „Dieses Hinweisgebersystem gibt die Möglichkeit, mit einem anonym bleibenden Hinweisgeber über einen Postkasten zu kommunizieren. Das System eröffnet den befassten Staatsanwält:innen somit im Gegensatz zur Bearbeitung postalisch oder auf sonstigem Weg eingelangter anonymer Anzeigen die Nachfrage beim Hinweisgeber zur Objektivierung des Wertes der Hinweise bei gleichzeitiger Zusicherung absoluter Anonymität.“ Ab 2016 wurde die Whistleblower-Homepage für die WKStA zum ständigen Begleiter. Mit Ende 2018 waren es über 7.700 Meldungen, die eingingen, und 638 Ermittlungsverfahren, die dadurch eingeleitet wurden. „Unabhängig von gesetzlichen Vorgaben macht ein Hinweisgeber:innen-System natürlich Sinn. Gerade im öffentlichen Dienst gibt es das bereits und wird sehr gut angenommen und genutzt“, so Europarechtler Leidenmühler aus Linz.
Ausstehende Umsetzung
Wie bereits erwähnt, ist Österreich eines jener EU-Länder, das die Richtlinie nicht rechtzeitig umzusetzen vermochte. Dass andere Länder das ebenfalls noch nicht geschafft haben, sollte nicht als Ausrede dienen. „Es wurden noch keine Schritte vonseiten der EU eingeleitet, aber es gab vor Weihnachten eine Mitteilung an alle Mitgliedstaaten, die noch nicht kommuniziert haben, wann die Richtlinie umgesetzt wird, eine Stellungnahme abzugeben“, sagt Sabine Berger, Pressesprecherin der ständigen Vertretung der EU-Kommission in Österreich auf Anfrage von Arbeit&Wirtschaft. Allerdings stehen noch keine Vertragsverletzungsverfahren für diese Länder im Raum, wie Berger betont. Eine zügige Umsetzung sollte jedoch im Interesse aller sein, ehe sich Österreich wieder vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verantworten muss. „Gegen Österreich läuft beispielsweise aktuell ein Verfahren vor dem EuGH wegen der Indexierung der Familienbeihilfe“, so Leidenmühler. Auch die Arbeiterkammer fordert die Regierung auf voranzuschreiten. „Die Umsetzung muss rasch geschehen. Aber es darf eben nicht auf die EU-Richtlinie beschränkt bleiben, sondern es müssen die praktisch wichtigen Bereiche auch miterfasst werden“, sagt Gagawczuk. Auf Anfrage an das Arbeitsministerium erfuhren wir, dass aktuell Gespräche mit Stakeholdern, wie den Bundesländern, Sozialpartnern und anderen Ressorts, geführt werden. Letzte Details müssen noch geklärt werden, und das Ministerium will sich dafür „ausreichend Zeit für Gespräche nehmen“, wie die Pressestelle verlauten ließ.