Das raubt uns die letzte Energie

Für Josef Thoman, Energieexperte der AK Wien, ist Energie kein Gut wie jedes andere, sondern ein zentrales Element der Daseinsvorsorge. Die sichere, leistbare und nachhaltige Versorgung dürfe nicht einfach unregulierten Märkten überlassen werden.
© Markus Zahradnik
Der Krieg in der Ukraine ist nur ein Grund für die explodierenden Energiepreise. Hauptverursacher sind ein nicht funktionierender Markt, ungehemmte Manipulationen und die Beutezüge von Finanzhaien im Strom- und Gasmarkt.
Landet dieser Tage ein Brief vom Energieversorger im Postkasten, treibt das bei vielen, den Autor inbegriffen, den Puls nach oben. Das Leben in Österreich wird spürbar teurer, allen voran Gas und Strom. Weil in den meisten Waren Energie steckt, steigt mit Gas- und Strompreisen (indirekt) auch der Preis anderer Produkte. Mit gravierenden Folgen: Laut Fiskalrat vom Juni 2022 können derzeit 35 Prozent der österreichischen Haushalte ihre Konsumausgaben nicht mehr decken. Vielen der Betroffenen droht ein „kalter Winter“, weil sie ihre Energierechnungen teils jetzt schon nicht mehr bezahlen können.

Strombörsenpreis: ungebremster Wahnsinn

Der Strombörsenpreis lag am 29. 8. 2022 mit über 600 Euro/MWh um über 1.300 Prozent höher als im langjährigen Durchschnitt und um 900 Prozent höher als vor einem Jahr. Die Folge: Der österreichische Strompreisindex (ÖSPI) liegt aktuell laut Energie Agentur bei 370,85 Euro, also um 256,2 Prozent über dem Wert von vor einem Jahr. Dieser Wert erfasst dabei nur den Preis für das Produkt Strom zum Großhandelspreis und keine Netzgebühren, Steuern und Abgaben oder Kosten und Rendite der Endversorger.

Laut Walter Boltz, ehemaliger Chef der Energieaufsichtsbehörde E-Control, gehe die Preiserhöhung zum einen auf eine tatsächliche Verknappung des Angebots zurück, zum anderen auf „Panik“ angesichts einer drohenden weiteren Verknappung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und einer gewissen Unkalkulierbarkeit der Ereignisse. Die Börsenpreise von Energieträgern werden stündlich ermittelt – dementsprechend volatil sind sie, und dementsprechend wenig korrelieren sie mit den realen Produktionskosten. Ein Faktor ist ein Preismechanismus, der eigentlich die erneuerbare Energie stärken und Verbraucher:innen vor hohen Strompreisen schützen sollte, in der aktuellen Ausnahmesituation sich jedoch gegen den Markt selbst wendet: das Merit-Order-Prinzip.

Merit-Order: fatale Koppelung

Ausschlaggebend für die Energierechnungen von Haushalten und Unternehmen sind die Großhandelspreise von Strom und Gas an den Börsen. Grundlage dafür ist das in Europa mit der Strommarktliberalisierung und der Etablierung von Strombörsen eingeführte Merit-Order-Prinzip. Übersetzt bedeutet Merit-Order „Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“. In der aktuellen Situation wirft das die Frage auf: Vorteilhaft für wen?

Was wir derzeit beobachten,
ist eine nie dagewesene Umverteilung von
den Energieverbraucher:innen hin zu
den Energieunternehmen.

Josef Thoman, Energieexperte der Arbeiterkammer Wien

Das Merit-Order-Prinzip koppelt Strom- und Gaspreis aneinander. So sinnvoll das Prinzip bisher schien: In der aktuellen Ausnahmesituation wird es zur sprichwörtlichen Achillesferse für die österreichischen Energiekund:innen. Denn rund 85 Prozent des in Österreich produzierten Stroms stammen aus Wasser-, Solar- oder Windkraft – preisbestimmend ist jedoch jene Energiequelle, die gerade noch benötigt wird, um die 100 Prozent des Strombedarfs zu decken – in aller Regel ein deutlich teureres Gaskraftwerk. Das bedeutet: Auch wenn sich die Produktionskosten von erneuerbaren Energien kaum verändert haben, steigt der Strompreis insgesamt an, weil der Preis für an der Börse gehandeltes Gas steigt.

Flaschenhals: private Infrastruktur

Zudem wird etwa Gas nicht nur gehandelt, sondern muss transportiert und gespeichert werden. Auch die Gasinfrastruktur (ähnlich wie Strom, Wasser, Transport und Telekommunikation), obschon zentraler Aspekt der öffentlichen Daseinsvorsorge, funktioniert entlang marktwirtschaftlichen Logiken. Vereinfacht gesagt: Was sich nicht rechnet, wird gar nicht erst gebaut, erhalten oder ausgebaut. In der Folge entscheidet profitorientiertes Handeln (teil-)privatisierter Unternehmen – nicht die Gesellschaft oder der Staat – über Qualität und Kosten der öffentlichen Versorgung. Die (Teil-)Privatisierung öffentlicher Infrastruktur bedeutet einen Machtverlust des Staates bzw. der Gesellschaft in puncto öffentlicher Daseinsvorsorge.

Ein zentrales Problem sieht Josef Thoman, Energieexperte der Arbeiterkammer Wien, auch darin, dass auf dem europäischen Gasmarkt der Wettbewerb nicht besonders gut funktioniere. Durch eine stark Russland-orientierte Infrastrukturpolitik besitze die russische Gazprom besonders viel Marktmacht. „Gazprom treibt die Preise politisch motiviert nach oben. Dies wird durch spekulative Geschäfte marktfremder Akteure, wie Banken und Hochfrequenzhandel, weiter verstärkt“, fasst Thoman zusammen.

Trio Infernal: Trader, Banken, Hedgefonds

Nach Corona zog 2021 die Konjunktur wieder an, und mit ihr stiegen Börsenpreise für Energie. Viele Versorger hatten sich offenbar nicht ausreichend über langfristige Verträge abgesichert. Gazprom – einer der größten Erdgaslieferanten für den europäischen Markt – erhöhte die Liefermengen nicht, und so begann der Börsenpreis für Gas im Herbst 2021 in lichte Höhen zu steigen, und mit der Verhängung des Gasembargos ging er durch die Decke. Die Unsicherheit stieg – und mit ihr der Anreiz für Spekulationen.

 

Neue Spielwiese für Finanzplayer

Damit traten mit Tradern, Banken und Hedgefonds neue Player auf dem Markt auf. Der Hochfrequenzhandel fand an den Energiebörsen eine neue Spielwiese. Bereits im Oktober 2021 äußerte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Rede vor dem Europäischen Parlament kritisch gegenüber den hohen Spekulationen und bekundete den Willen, diese durch eine verstärkte Überwachung der Gas- und Energiemärkte beenden zu wollen. Und selbst Steve Hill, Executive Vicepresident von Shell, kommentierte in einem Interview mit „The Times“ im Februar 2022: „Ein weiterer Faktor, der eine wesentliche Rolle für die hohen Preise in Europa und die Volatilität im vergangenen Jahr spielte, waren wachsende Finanzaktivitäten und im Speziellen viele neue Finanzplayer, wie Hedgefonds, die in den Markt eingetreten sind.“

Ein weiterer Faktor für die hohen Preise und die Volatilität
in Europa waren wachsende Finanzaktivitäten und viele neue Finanzplayer,
wie Hedgefonds, die in den Markt eingetreten sind.

Steve Hill, Executive Vicepresident von Shell

„Zufallsgewinne“ für Energiekonzerne

In der Praxis führt das Merit-Order-Prinzip neben hohen Preisen zu enormen „Zufallsgewinnen“ für Energiekonzerne. „Während sich die Erzeugungskosten für erneuerbaren Strom kaum verteuert haben, sind die Verkaufspreise für Energie explodiert“, kritisiert Thoman. „Was wir derzeit beobachten, ist eine nie dagewesene Umverteilung von den Energieverbraucher:innen hin zu den Energieunternehmen.“

Derzeit nämlich können Ökostromanbieter wie die Verbund AG ihren zuvor günstig aus erneuerbaren Energiequellen produzierten Strom teuer an der Börse verkaufen. Anschließend kaufen sie den Strom dort zu aktuellen Marktpreisen wieder ein und geben die Mehrkosten an die Endverbraucher:innen weiter.

Auch Energiekonzerne, die Erdöl und Erdgas explorieren, wie die OMV in der Nordsee, profitieren massiv von den stark steigenden Preisen, denn die Explorationskosten für Erdgas und Erdöl blieben ja unverändert. In den Bilanzen von Verbund AG und OMV liest sich das so: Erstere steigerte den Gewinn im ersten Halbjahr 2022 um 152 Prozent auf 817 Millionen Euro, Letztere von 2,2 auf 5,6 Milliarden Euro.

Mit den im Oktober 2021 von der österreichischen Bundesregierung angekündigten Senkungen der Körperschaftsteuer im Jahr 2023 von 25 Prozent auf 24 Prozent und im darauffolgenden Jahr 2024 von 24 auf 23 Prozent steht auch für die Energieversorger eine weitere positive Auswirkung auf den Gewinn bevor.

Abstrakter Mechanismus, konkrete Auswirkungen

Die andere Seite der Medaille: Insgesamt lagen die Haushaltsenergiepreise im Juni 2022 etwa 45 Prozent über denen vom Juni des Vorjahres. Da mit den Energiekosten auch die Kosten für Produktion und Transport von Gütern ansteigen, steigen mittelbar auch die Preise für Produkte des täglichen Lebens. In Summe rechnet die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) für 2022 mit einer Inflation von 7,6 Prozent – die höchste seit rund 50 Jahren. Im September 2022 war die Inflation in Österreich mit 10,5 Prozent sogar zweistellig.

Angesichts dieser Ungleichverteilung von Kosten und Profit fordert Thoman einen Eingriff in den Markt, um den Strompreis vom Gaspreis zu entkoppeln. Der AK-Experte verweist auf Spanien und Portugal: Auf der Iberischen Halbinsel wird die Stromproduktion von Gaskraftwerken staatlich subventioniert. Damit sinkt der Strombörsenpreis – und folglich der Strompreis für alle Verbraucher:innen. Finanziert werden soll diese Maßnahme laut Thoman über eine Sondersteuer auf Übergewinne der Krisengewinner (zum Beispiel durch Gewinnabschöpfung bei Energiekonzernen wie der OMV). Eine solche Übergewinnsteuer wurde in Großbritannien, Italien und Griechenland bereits implementiert. Spanien und Belgien folgen demnächst.

Glaskugel lesen ist zu wenig

Mittelfristig, fordert Thoman, müsse es darum gehen, den Strom- vom Gaspreis zu entkoppeln, ohne dass man auf Subventionen zurückgreifen muss, das heißt, das Merit-Order-Prinzip abzuschaffen.

Ex-E-Control-Chef Boltz offeriert einen in diesen Belangen ungewohnt optimistischen Blick in die Zukunft: In zwei bis drei Jahren, schätzt Boltz, werden sich die Preise wieder normalisieren. Bis dahin heiße es „durchhalten“ und versuchen, einkommensärmere Menschen möglichst gut zu unterstützen.

Thoman sieht das ganz anders: „Energie ist kein Gut wie jedes andere, sondern ein zentrales Element der Daseinsvorsorge. Wir dürfen die sichere, leistbare und nachhaltige Versorgung mit Energie nicht einfach unregulierten Märkten überlassen. Der Staat muss stärker eingreifen, Spekulation unterbinden, die Unternehmen in die Verantwortung nehmen und auch in die Preisbildung eingreifen. Denn die Preise werden auch mittelfristig hoch bleiben. Wir können nicht weiter zusehen, wie Gewinne privatisiert werden, Verantwortung und Kosten aber die Allgemeinheit trägt.“

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