Prodanovic plädiert für mehr Realismus, denn so viele Einhörner gibt es schlichtweg nicht. Ihr Anteil liegt bei gerade einmal 0,071 Prozent der privaten Unternehmen, wie einer der Vortragenden ebenfalls relativiert. Aus Europa stammen die wenigsten, wenn man der Einhorn-Liste des US-Magazins „Fortune“ Glauben schenken kann. Darin aufgelistet sind Unternehmen mit einem Marktwert von mehr als einer Milliarde US-Dollar. Kein einziges stammt aus der EU: Sechs sind in den USA beheimatet, drei in China und eines in Indien. An Stelle 15 findet sich das schwedische Start-up Spotify. In Europa sind die Märkte zu kleinteilig, genau deshalb müssten Start-ups hier erst recht auf die internationalen Märkte blicken, heißt es.
Auch das scheint einigermaßen ambitioniert, wenn man sich die Anfänge der meisten Start-ups vor Augen hält. Da stehen meist junge Menschen, die eine Idee haben, die sie unternehmerisch umsetzen wollen. Friends, Family and Fools: So werden nicht umsonst die ersten Investoren von Start-ups genannt. Es sind Menschen, die an die GründerInnen glauben (es sind derweil mehrheitlich Männer) und dabei in die eigenen Taschen greifen, um die Ideen ihrer Lieben zu unterstützen. Dies klingt nach einer großen Portion Idealismus, die wohl tatsächlich die meisten Start-up-GründerInnen auszeichnet. Eben dieser Idealismus und die Kreativität, die mit Start-ups verbunden wird, machen wohl auch die Faszination aus, die viele für Start-ups empfinden. Nicht umsonst schmücken sich auch PolitikerInnen gerne mit diesen empfundenen Vorreitern der Wirtschaft.
Faszination
Von Start-ups geht wohl auch deshalb eine Faszination aus, weil sie einen Weg gefunden haben, Alternativen zu den klassischen Finanzquellen von Unternehmen zu finden. Denn Banken sind bei der Vergabe von Krediten immer zurückhaltender, was nicht zuletzt eine Folge der Finanzkrise ist. Allerdings sollten die strengeren Regeln im Austausch für staatliche Garantien eigentlich dazu führen, das spekulative Geschäft zu bremsen, faktisch aber sind Banken insgesamt geizig geworden. Zudem ist es bei vielen Start-up-Ideen eben alles andere als klar, ob sich daraus tatsächlich ein erfolgreiches Geschäft machen lässt. Das Versprechen der Innovation hat im Gegenzug Risikokapital auf den Plan gerufen, das nun diese Lücke zu schließen versucht.
Dass von all dem sogar für die Politik eine große Faszination ausgeht, ist erstaunlich. Denn wenn man sich in diesen Wirtschaftszweig vertieft, landet man bei einem Fachsprech, der manche vielleicht an die Zeit vor der großen Dotcom-Blase erinnert, die meisten aber wohl jedenfalls an die Zeit vor der letzten großen Wirtschaftskrise, als ähnliche Begriffe Hochsaison hatten – während die Realität dahinter die ganze Welt nahe an den Abgrund brachte. Schnell wachsen, große Märkte erobern, viel Geld beim Verkauf bringen: Sind nicht ebendiese Ansprüche dazu geeignet, die nächste Blase hervorzubringen?
„Real-life problems“
Zumindest Selma Prodanovic hat andere Ansprüche an Start-ups. Interessant seien für sie jene, die „real-life problems“ lösen wollen. Als „schönstes Beispiel“ dafür nennt sie die App „mySugr“, die von Diabetes-PatientInnen auf die Beine gestellt wurde, um den Alltag mit der Zuckerkrankheit zu erleichtern: „Die Gründer hatten selbst ein Problem und haben auf der Fun-Ebene eine Lösung gefunden.“ Im Vordergrund stehe nicht nur die „Technologie mit Profit“, sondern jene „mit Purpose“, betont der Business Angel.
Und doch müssen auch Business Angels Geld verdienen, denn wie Prodanovic selbst betont: Sie sind keine PhilanthropInnen. Doch auch abgesehen davon scheint es ein legitimer Anspruch zu sein, dass Start-ups keine Spielwiese sind. Nicht zuletzt investiert auch der Staat einiges an Geld in diesen Sektor.
Einen völlig anderen Zugang könnte von daher Crowdfunding bieten. Die Idee: Interessierte oder künftige KonsumentInnen geben Geld aus, um einer Idee, die sie für sinnvoll halten, auf die Welt zu helfen. Damit wird sichergestellt, dass Bedürfnisse nicht erst über kostspielige Marketingmaßnahmen geweckt werden müssen, um die entsprechenden Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen. Die Vielzahl an Finanziers sorgt dafür, dass die MacherInnen nicht von Einzelinteressen gesteuert werden, sondern ihren eigenen Weg gehen können – ganz ohne allzu hochgestochene Profiterwartungen erfüllen zu müssen.
Einen Schritt weiter geht der Investor Nikolaus Hutter mit dem Konzept der „Impact Economy“, das er in der Wiener Sky Lounge präsentiert: Die Millennials oder Generation Y suchen nach Sinn in ihrer Arbeit und wollen vor allem keine Produkte mehr kaufen, die unter Ausbeutung von Menschen oder der Umwelt erstellt werden. Deshalb müsse die Start-up-Szene umdenken: Zukunft hätten Start-ups nur, wenn sie auf diese Bedürfnisse Rücksicht nehmen – und somit auch Investoren, wenn sie diesen Anspruch an die Stelle von alleinigen Profitinteressen stellen.
Lösungen und Spaß
Start-ups setzen nur auf Entertainment, die Investoren wollen nur das große Geld, für große Unternehmen sind Start-ups nur Auslagerungen im anderen Gewand: In all diesen Vorwürfen stecke ein Körnchen Wahrheit, gesteht Prodanovic ein. Sie hält die europäische Szene aber für durchaus bodenständiger: „In den USA gibt es Investoren, die offen sagen: ‚We are in the exit-business.‘“ Sprich: Sie streben nach den großen Gewinnen, die ein Exit/Verkauf eines erfolgreichen Start-ups mit sich bringt. Ihr hingegen gehe es um die „Lösungen, die daraus entstehen“ – und um den Spaß, den viele GründerInnen zweifellos versprühen.
Doch wie steht es eigentlich um die Rechte und Arbeitsbedingungen von ArbeitnehmerInnen? Sind Start-ups wirklich imstande, Jobs zu schaffen? Zumindest auf die letzte Frage antwortet Prodanovic kategorisch: „Auf jeden Fall.“ Die Investitionen ihres Kollegen Hansi Hansmann hätten jedenfalls 500 Arbeitsplätze geschaffen. Der Großteil der neuen Arbeitsplätze gehe auf das Konto von Start-ups oder EPUs (mehr dazu siehe „Das unbekannte Wesen“ und „Start-ups als Beschäftigungsmotor?“). Was die Bezahlung und Arbeitsbedingungen betrifft, beruft sie sich auf allgemeine Prinzipien. „Das ist eine besondere Welt, das muss man wollen“, sagt sie. Und immerhin werde niemand gezwungen, dort zu arbeiten. Wenn man sich aber dafür entscheide, lohne sich das jedenfalls: „Ein oder zwei Jahre in einem Start-up gearbeitet zu haben, das ist eine großartige Erfahrung. Man kann dabei sein, wie etwas Neues entsteht.“
Dann wechselt sie die Position. „Ein Start-up zu gründen ist keine leichte Entscheidung“, hält sie fest. Für jede/n GründerIn sei es schmerzhaft, wenn die beste Idee dann doch nicht reüssiert: „Da hat man Blut geleckt und muss einen lnsolvenz- oder Konkursantrag stellen. Das macht man sicher nicht leichtfertig.“ Auch würden die ArbeitnehmerInnen nicht in der Arbeitslosenstatistik aufscheinen.
Großer Diskussionsbedarf
Der große Hype um die Start-ups scheint von daher ebenso berechtigt wie unberechtigt. Berechtigt deshalb, weil sie in der Tat ein Innovationspotenzial haben, das sehr wohl dem Anspruch der Weltverbesserung Genüge tun kann. Unberechtigt, weil die Frage der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung von ArbeitnehmerInnen allzu sehr auf die leichte Schulter genommen wird. Was nach dem Streifzug bleibt, ist jedenfalls eine Menge Diskussionsbedarf.
Sonja Fercher
Christian Bunke
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/17.
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Goldgräberstimmung 4.0
Fast hat man das Gefühl, in ein Märchen geraten zu sein. Oder vielleicht auch in eine große Schatzsuche. Es ist von Engeln die Rede und von Einhörnern (Unicorns), auf die Jagd gemacht wird. Man träumt vom großen Goldschatz, zu dem die Einhörner die GoldgräberInnen führen sollen. Im Übrigen reicht inzwischen gar kein einfaches Einhorn mehr, inzwischen träumt man schon von Decacorns und Super-Unicorns. Anders als das gemeine Einhorn, das eine Milliarde US-Dollar wert ist, bringen diese zehn bzw. 100 Milliarden.
Eines ist jedenfalls klar: Die Start-up-Welt will zum Träumen anregen. Bei den einen ist es der Traum vom Sprung in den viel zitierten Geldspeicher. Die anderen träumen in Form von großen Ideen, mit denen sie die Welt verändern wollen. Die meisten träumen wohl davon, von beidem ein bisschen zu finden. Es scheint fast ein Fingerzeig der Geschichte zu sein, dass sich das Mekka der heutigen Start-up-Szene genau dort befindet, wo es schon im 19. Jahrhundert einen Goldrausch gab: in San Francisco, Kalifornien. Heute heißen die Goldschätze Google, Apple oder Microsoft.
Unter den Begriff Start-ups fallen freilich nicht nur diese Großen, auch wenn eines Start-ups genau von anderen Unternehmensgründungen unterscheiden soll: Sie haben ein Produkt im Kopf, das möglichst auf dem Weltmarkt reüssieren soll, und das noch dazu möglichst rasch. Ziel ist der Exit, also der Verkauf des Start-ups. Im Idealfall ist das Produkt dazu geeignet, für eine Disruption zu sorgen, also einen alten Markt alt aussehen zu lassen und stattdessen einen völlig neuen Markt zu schaffen.
Auf die Hinterräder gestellt
Gewerkschaftliche Organisierung in der neuen Arbeitswelt ist eine Herausforderung: das erfolgreiche Beispiel Foodora.
Wie Gewerkschaftsarbeit Erfolg in der Welt der Plattformarbeit haben kann, zeigte in Österreich jüngst die Betriebsratsgründung beim Essenslieferdienst Foodora. Aus dem ehemals kleinen Unternehmen, das Essen durch auffällig rosa gekleidete FahrradbotInnen zustellt, ist binnen drei Jahren ein europaweit agierender Konzern geworden. Sowohl Zustellung als auch die Arbeitsorganisation erfolgen über eine Onlineplattform (siehe auch „Gemeinsam für die faire Plattform“).
Eine Gruppe engagierter Foodora-FahrerInnen hat nun mit Unterstützung der vida einen Betriebsrat gegründet. Eines ihrer Ziele ist es, faire Arbeitsbedingungen und Mitspracherecht im Betrieb trotz der rasant gewachsenen Unternehmensgröße zu sichern. Außerdem wollen sie eine Betriebsvereinbarung mit der Foodora-Geschäftsführung verhandeln. Die neue Betriebsratsvorsitzende Adele Siegl: „Wir wollen bessere Arbeitsbedingungen schaffen, etwa Zuschläge für die besonders anstrengenden Dienste in der Nacht oder im Winter, um nur ein Beispiel zu nennen.“ Weiteres Ziel sind mehr echte Dienstverhältnisse und weniger freie.
Die Betriebsratsgründung bei Foodora fand unter ungewöhnlichen Vorzeichen statt, berichtet Karl Delfs vom Fachbereich Straße der Gewerkschaft vida. „Das war kein klassisches Organisieren, wie wir das aus etablierten Betrieben kennen. Die Beschäftigten sind auf uns zugekommen. Sie haben dort schon seit Längerem eine starke Selbstorganisierung. Das ist eine sehr solidarische Gruppe, die sehr strategisch operiert.“
Auch über das Unternehmen hinaus seien die Fahrradkuriere, sie nennen sich „Riders“, gut miteinander vernetzt. „Die Betriebsratsgründung dort könnte auch für andere Unternehmen Vorbildwirkung haben. Die KollegInnen bei Foodora wollen jedenfalls, dass wir in Sachen neuer Kollektivvertrag dranbleiben.“
Delfs möchte in der Branche der FahrradbotInnen ein „Abrutschen in das Prekariat“ verhindern. Es gehe darum, die Kollektivvertragsverhandlungen zu nutzen, um einen „Rahmen zu definieren“. Da gebe es viele offene Fragen: „Zum Beispiel bei den Betriebsmitteln: Wer stellt das Fahrrad? Wer stellt das von den Riders benötigte Handy?“
Viele FahrradbotInnen seien freie DienstnehmerInnen ohne Absicherung im Krankheitsfall. „Wir wollen gescheite Anstellungsverhältnisse für alle“, sagt Delfs. „Das wird aber nicht von allen Riders getragen. Da gibt es viele studentische MitarbeiterInnen, die das nur als Nebenjob machen. Nichtsdestotrotz wollen wir Fragen des Krankengeldes, Urlaubsgeldes, der maximalen Fahrzeiten für die Boten oder auch des Maximalgewichts pro Fahrt behandeln.“
Das FahrradbotInnensegment wird in Zukunft immer wichtiger werden, ist sich Delfs sicher. „Viele große Firmen stellen von Kleinlastern auf Fahrräder um. Das Verlagerungspotenzial liegt bei 30 bis 40 Prozent, beim Lebensmitteltransport sogar bei 90 Prozent. Auch deshalb ist es für uns als Gewerkschaft wichtig, bei den Fahrradboten aktiv zu sein.“ Es gelte, Zustände wie beim Kleintransportbereich zu vermeiden. „Da gibt es bis zu 1.800 Ein-Personen-Unternehmen, insgesamt sind in Österreich 3.000 Unternehmen in dem Gewerbe gemeldet. Viele davon sind aber Scheinselbstständige. Da findet sehr viel Selbstausbeutung statt. Das wollen wir bei den Fahrradboten verhindern.“
Vorreiterin für EinzelkämpferInnen
ver.di hat ein „Referat Selbstständige“: Wie passt das mit einer Gewerkschaft zusammen?
Veronika Mirschel ist eine Vorreiterin, wenn es darum geht, Ein-Personen-Unternehmen gewerkschaftlich zu organisieren. Gemeinsam mit einem Kollegen betreut sie das „Referat Selbstständige“ in der deutschen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Selbstständige und Gewerkschaft: Geht das überhaupt zusammen? Mirschel bejaht dies, auch wenn sie eingesteht, dass das Thema durchaus kein einfaches ist. Um die 30.000 EinzelunternehmerInnen, dort auch Solo-Selbstständige genannt, werden von ver.di betreut beziehungsweise sind Mitglied in der Gewerkschaft.
„Die sogenannten Selbstständigen wurden lange von Betriebsräten ignoriert. Dabei gibt es immer mehr von ihnen, in immer mehr Branchen.“ Eine von ver.di in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2016 gibt ihr recht. Aus ihr geht hervor, dass immer mehr Beschäftigte ihr Einkommen aus verschiedenen Quellen beziehen.
„Heute gibt es Selbstständige in Berufsgruppen, in denen das vor einigen Jahrzehnten fast völlig unbekannt war“, erklärt Mirschel. So sind im Medienbereich immer mehr Kameraleute oder CutterInnen selbstständig. „Und der Witz ist: Die wollen teilweise auch in der Selbstständigkeit bleiben, weil sie sich damit freier fühlen.“ Auch im Bildungswesen gibt es immer mehr Selbstständige. „Volkshochschulen funktionieren fast ausschließlich über Selbstständigkeit, aber auch an Schulen und Universitäten trifft man das verstärkt an.“ So zählen Schwierigkeiten beim Erzielen regelmäßiger und ausreichender Einkommen, Absicherungsprobleme bei Krankheit, Alter und Auftragslosigkeit sowie die (Nicht-)Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben zu den Top-5-Herausforderungen der von ver.di befragten neuen Selbstständigen.
Gleichzeitig wird ein Bedürfnis nach gewerkschaftlichem Engagement spürbar. 42 Prozent der Befragten fordern, dass sich ver.di „mehr“ um die Belange neuer Selbstständiger kümmert. 37,2 Prozent fordern sogar „viel mehr“ Engagement ihrer Gewerkschaft.
Das Referat Selbstständige versucht diesen Bedürfnissen mit „Hilfe zur Selbsthilfe“ und Selbstorganisation entgegenzukommen. „Unser Konzept ‚KollegInnen helfen KollegInnen‘ wird sehr gut angenommen.“ Allein im vergangenen Jahr wurden so bis zu 2.500 Beratungen durchgeführt.
Daneben baut das Referat ehrenamtliche Mitgliederstrukturen auf. „Es gibt Stammtische in verschiedenen deutschen Städten, die ehrenamtlich organisiert werden“, sagt Mirschel. „Sie sind auch für Nicht-Mitglieder offen. Da gibt es Informationen zu Themen wie Vertragsrecht oder Steuerfragen. Außerdem gibt es eine demokratische Mitgliederstruktur innerhalb der Gewerkschaft.“
Misstrauen gebe es bisweilen innerhalb der Gewerkschaft, weil Selbstständige als „mühseliger Ameisenhaufen“ betrachtet werden. „Da denken sich manche Funktionäre: Lass uns lieber große Betriebe organisieren. Das bringt mehr.“ Dabei sei das Thema Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit schon lange in großen Organisationsstrukturen anzutreffen. „Zum Beispiel in der Logistik. Da gibt es jetzt so viele Sub-Sub-Sub-Unternehmer, die dann pro Auslieferung eines Paketes gerade mal einen Euro verdienen. Diese Leute muss man organisieren!“