Unsoziales 4.0
Auch die Zahl der (oft unfreiwilligen) Selbstständigen wächst weiter. Die Ursachen sind allerdings nicht im Sozialversicherungssystem zu finden, sondern in gesellschaftlichen Veränderungen. „In den vergangenen Jahren gab es einen Wandel, etwa das Überhandnehmen von kurzfristigen Praktika, Crowdworking oder Clickworking – prekäre, zum Teil scheinselbstständige Beschäftigungsverhältnisse“, erklärt Marc Pointecker. Bei der sogenannten Arbeit 4.0 werden Rechte, die anderswo schon längst erkämpft wurden, infrage gestellt. „Wir müssen schauen, wie die Menschen besser abgesichert werden können. Ein Beispiel, das in die richtige Richtung zeigt, ist etwa die erfolgte Einbeziehung der freien DienstnehmerInnen in die Sozialversicherung.“ Es ist eine Herausforderung, die sich nicht nur Österreich stellt, sondern vielmehr der gesamten EU.
Eine andere Herausforderung für den österreichischen Wohlfahrtsstaat sind neoliberale Diskurse. In diesem Ansatz stehen Marktaktivitäten im Vordergrund, nur im Notfall soll es monetäre Transfers geben, wobei sehr genau geprüft werden soll, ob die Betroffenen auch wirklich einen Bedarf danach haben. Ziel ist es, die Menschen eigenverantwortlich handeln zu lassen. Was dabei aber völlig übersehen wird, ist, ob die Rahmenbedingungen auch tatsächlich ein entsprechendes Handeln ermöglichen. „Poor services for poor people“, fasst Adi Buxbaum die Folge zusammen: „Es kommt häufig zu Bedarfsprüfungen, denn der Staat möchte ja nicht zu großzügig sein. Der Markt wird es schon richten, und bloß nicht zu sehr helfen, denn sonst gäbe es Fehlanreize.“ Eine Argumentationslinie laute entsprechend: Menschen sollten wenig Arbeitslosengeld erhalten, damit sie rascher in den Arbeitsmarkt zurückkehren. Ob sie auf dem entsprechenden Arbeitsmarkt überhaupt eine Chance haben, einen Job zu finden – etwa weil die Arbeitslosigkeit hoch ist –, spielt in diesem Zugang keine Rolle.
Insbesondere in Großbritannien und Irland hat sich dieser Zugang etabliert. Zumindest in der politischen Diskussion hat er auch in Österreich seine Spuren hinterlassen. „Wenn die OECD eine Publikation vorstellt und erwähnt, dass Österreich einen hohen Anteil an Sozialausgaben bei den Staatsausgaben hat, wird es in unserem Diskurs negativ gesehen“, weiß Christine Mayrhuber. „Dabei kann es durchaus positiv und nicht als Belastung gesehen werden, wenn dem Staat die soziale Absicherung etwas wert ist.“ Auch der Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Wirtschaftsstandort wird meist negativ dargestellt. „Bis jetzt wird das immer als Konkurrenzverhältnis gesehen. Doch wir sehen, dass es massiv komplementär ist“, berichtigt Adi Buxbaum. „Es braucht den Dreischritt: eine hohe Abgabenquote, die eine hohe Staatsaktivität ermöglicht und eine hohe Produktivität bewirkt. Etwa durch Bildungsinvestitionen, Aufwendungen in die öffentliche Infrastruktur oder durch Technologieförderung.“
Viel Motivation, wenig Möglichkeiten
Auf der anderen Seite reicht der soziale Wille allein nur wenig. „In Österreich gibt es den Trend, starke soziale Anreize zu setzen, ohne die reale Grundlage des Arbeitsmarkts mitzugestalten“, kritisiert WIFO-Expertin Mayrhuber. „Man setzt auf finanzielle Motivation, ohne zu schauen, ob die reale Situation gegeben ist, dass diese Anreize überhaupt wahrgenommen werden können. Ist denn der Arbeitsmarkt für Ältere vorhanden?“
In anderen Ländern würden Firmen in die Pensionsreform eingebunden. Es werde überlegt, was verändert werden kann, damit die Menschen länger im Betrieb bleiben. Dabei sind die Unternehmen auch viel stärker verpflichtet, sich um erkrankte, ältere MitarbeiterInnen zu kümmern als hierzulande. Marc Pointecker: „In Österreich müssen die Arbeitgeber ihre Sozialabgaben zahlen und damit ist alles erledigt. Wenn jemand aufgrund der Arbeitsbedingungen schwer krank oder invalide wird, dann kostet das dem Unternehmen keinen Cent.“ Der Experte im Sozialministerium kennt Staaten, wo die Arbeitgeber zur Rechenschaft gezogen werden und arbeitsbedingte Invalidität auch den Unternehmen verrechnet wird.
Frauen haben es immer noch schwer
Bei der geschlechtsspezifischen Ungleichheit in der Entlohnung endet der Sozialstaat. Die öffentliche Hand kann nicht direkt eingreifen, sondern etwa nur Betreuungseinrichtungen anbieten, damit Frauen (theoretisch) bessere Chancen am Arbeitsmarkt haben. Doch der Arbeitsmarkt ist angespannt, der Arbeitsdruck nimmt stetig zu, Männer fürchten auch deshalb die Väterkarenz. Zu wenig hat sich dahingehend in den letzten Jahrzehnten verändert. Gewachsene Strukturen und Wertehaltungen machen eine Veränderung obendrein schwierig. In Dänemark stoßen Eltern, die ihr Kind nicht spätestens mit einem Jahr in den Kindergarten geben, auf großes Unverständnis. „Es erweckt den Eindruck, dass sie nicht das Beste für ihr Kind wollen“, erzählt Pointecker. Anders ergeht es Eltern in Österreich: „Den Begriff Rabenmutter gibt es eigentlich nur im deutschen Sprachraum. Bei uns wird man eher schief angesehen, wenn die Kinder recht früh in den Kindergarten gehen.“
Trotz all dieser Herausforderungen fällt das Urteil über den österreichischen Sozialstaat positiv aus. Beinahe überall in Europa wird Sozialpolitik betrieben, selten ist sie so effektiv wie in Österreich. Die initiierten Maßnahmen halfen durch die Krise und garantierten einen erheblichen sozialen Ausgleich innerhalb der Bevölkerung. Vorbild bleibt aber das nordische Modell, wo es Rechtsansprüche auf bestimmte Sozialleistungen gibt und mehr Professionalisierung u. a. in der Altenbetreuung herrscht. Adi Buxbaum: „In Österreich werden viele gesellschaftspolitisch relevante Fragen über die Familie beantwortet. Von Frauen wird oft noch erwartet, dass sie bei den Kindern und bei den zu pflegenden Angehörigen bleiben. Da ist noch Luft nach oben. Mittelfristig und langfristig sollten wir uns am nordischen Modell orientieren.“
Christian Resei und Sophia Fielhauer-Resei
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/17.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor
resei@gmx.de
die Redaktion
aw@oegb.at