Coverstory: Vorwärts und nicht vergessen

Inhalt

  1. Seite 1 - Spuren der ArbeiterInnenbewegung lassen sich in Favoriten weiterhin finden
  2. Seite 2 - Erfolge der ArbeitnehmerInnenbewegung: faire Löhne, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten
  3. Seite 3 - Auf dem Weg zu fairer Arbeit sind noch viele Herausforderungen zu bewältigen
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In Favoriten nahm die österreichische ArbeiterInnenbewegung ihren Ausgang. Ihre Spuren findet man bis heute. Sie legen davon Zeugnis ab, wie viel Menschen erreichen können, wenn sie sich zusammenschließen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Ein Spaziergang durch Geschichte und Gegenwart.

Dem Gedenken gewidmet

Szenenwechsel an einen anderen Ort der ArbeiterInnenbewegung, der anders als das Arbeiterheim heute noch glänzt: das Vorwärts-Haus an der Rechten Wienzeile. Jahrzehntelang hatte hier die Arbeiterzeitung ihren Sitz, es war somit auch der Arbeitsplatz von Victor Adler. Schon wenn man das Haus betritt, spürt man die Geschichte, was nicht nur an den historischen Plakaten liegt, die dort ausgestellt sind. Die Wände im Erdgeschoß sind mit Holz vertäfelt, im ersten Stock ist eine Bibliothek untergebracht, die Regale sind mit unzähligen historischen Ausgaben von Zeitungen befüllt. Inzwischen ist in den früheren Redaktionsräumlichkeiten der Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA) untergebracht. In einer hübschen alten Glasvitrine findet man Devotionalien, darunter auch eine Büste der historischen Leitfigur Victor Adler. Michaela Maier ist Vorsitzende des Vereins, nicht ohne Stolz hält sie fest: „Er ist international die älteste Institution dieser Art.“

Wenn es also um die Frage geht, wie es um das Gedenken an die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung steht, so ist sie jedenfalls eine perfekte Ansprechpartnerin. Denn wann hat es denn eigentlich begonnen, dass man sich auch in der etablierten Geschichtswissenschaft für die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zu interessieren begonnen hat? „Das ist in den späten 1960er- und 1970er-Jahren aufgekommen, dass man nicht mehr nur „Geschichte von oben“ erzählen wollte, sondern sich auch anschauen wollte, was unten passiert ist“, sagt Maier. Denn dass Geschichte nicht nur die Geschichte von Herrschenden und ihrer Kriege sein muss: Diese Einsicht hat sich auch in der Geschichtswissenschaft erst etablieren müssen. Dass sie sich durchgesetzt hat, davon kann freilich keine Rede sein. Das Interesse für die „Geschichte von unten“ komme und gehe in Wellen, so Maier. „Es war eine Zeit lang moderner, um die Jahrtausendwende herum war es auf einmal überhaupt nicht mehr interessant.“ Blinde Flecken: Sie begleiten nicht nur die Wahrnehmung der Geschichte, sondern auch jene der tagesaktuellen Berichterstattung. So war ein Medium wie die Arbeiterzeitung für den Einfluss, den Gewerkschaften erreichen konnten, von essenzieller Bedeutung. Denn in Medien wie in dieser früheren Traditionszeitung wurden andere Themen aufgegriffen als in der bürgerlichen Presse – es gab Platz für andere Meinungen und Zugänge. Freilich blieb auch sie nicht von blinden Flecken verschont, genauso wenig wie die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung selbst.

Vergessene AkteurInnen

Dafür kann man beispielsweise einen Blick zurück nach Favoriten werfen. Denn wer weiß schon, nach wem das Amalienbad – auch ein Vorzeigebau des Roten Wiens – benannt ist? Es ist aufschlussreich, sich auf Wikipedia auf die Suche nach der Namensgeberin zu begeben. Denn erst nach Nennung unzähliger Männer, vom Baumeister bis zum Bürgermeister, der den Bau veranlasst hatte, wird man fündig: Es ist die 1924 verstorbene Amalie Pölzer, Arbeiterin, sozialdemokratische Abgeordnete aus Favoriten und Frauenrechtlerin.

Foto (C) Christian Fischer
In den Ziegelwerken am Wienerberg arbeiteten die berühmten „Ziegelböhmen“. Schon bei ihnen prangerte man ihre angeblich mangelnde Integrationswilligkeit an. Nicht nur in den Familiennamen vieler ÖsterreicherInnen sind sie weiterhin präsent, auch der Name des Böhmischen Praters erinnert daran. Im Bild zu sehen ist die Raupe, ein Gerät, auf dem man seit dem Jahr 1929 fahren kann.

Sich in die Geschichte einschreiben

Dass Frauen in der Geschichte zu kurz kommen, liege nicht nur daran, dass sie in der patriarchalen Gesellschaft nur selten in Machtpositionen zu finden waren, erläutert Maier. „Die damaligen Frauen waren sich ihrer eigenen Geschichte nicht so bewusst. Und sie haben nicht das Gefühl gehabt, dass sie sich so in die Geschichte einschreiben müssen oder gar verschriftlichen müssen.“ Die Folge: Es gibt wenig Material, das aus den Federn von Frauen selbst stammt. Doch es musste sich erst durchsetzen, dass auch Oral History, also Interviews mit ZeitzeugInnen, eine wertvolle, wissenschaftlich verwertbare Quelle sein kann. Lächelnd erzählt Maier von Friedrich Adler, Sohn von Victor Adler: „Der hat sogar die Entlehnzettel von den Büchern aufgehoben, die er gelesen hat, weil er gewusst hat, irgendwann wird jemand kommen und sich das ansehen.“

Keine Frage, die ArbeiterInnenbewegung hat viel weitergebracht, seitdem sich die ArbeiterInnen Ende des 19. Jahrhunderts zu organisieren begonnen haben. Blickt man zurück auf die Themen, um die sie gerungen haben, so wird deutlich: Diese sind nicht Teil von Geschichtsbüchern. Ob faire Löhne, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten: Bis heute müssen Gewerkschaften und BetriebsrätInnen den Arbeitgebern dahingehend Fortschritte abringen. Bei so manchem Thema kämpft man inzwischen sogar gegen Rückschritte, etwa wenn man an das Arbeitszeitgesetz und die damit verbundene Arbeitszeitverlängerung denkt. Bis vor kurzem war im Haus Niederösterreich in der Wiener Herrengasse die Ausstellung über die „vergessene Revolution 1848“ vom VGA ausgerichtet. Unter anderem waren dort die verschiedenen Forderungen der ArbeiterInnenbewegung dargestellt. „Da wird dir manchmal schlecht, weil genau diese Forderungen, die streckenweise erfüllt worden sind, jetzt wieder untergraben oder rückgängig gemacht werden“, so Maier.

Die Anliegen der frühen ArbeiterInnenbewegung reichen weit über die reine Gestaltung der Arbeitsplätze hinaus. Leistbares Wohnen ist damit ebenso untrennbar verbunden wie leistbare Lebensmittel. Nicht umsonst zählen Wohnen und KonsumentInnenschutz bis heute zu zentralen Anliegen der ArbeitnehmerInnenvertretung.

Die Arbeitszeit, sprich jene Lebenszeit, die ArbeitnehmerInnen neben ihrer Arbeitskraft den Unternehmen gegen Bezahlung zur Verfügung stellen: Sie ist und bleibt ein heißes Thema. Spannend dabei ist, welches Bild der ArbeitnehmerInnen bei den Diskussionen darüber oftmals zu Tage tritt. Natürlich hat es sich gewandelt und doch sind Parallelen zu erkennen. So machten sich Arbeitgeber im 19. Jahrhundert „Sorgen“ darum, wie ihre ArbeiterInnen deren Freizeit verbrachten – und dass diese Vergnügungen nur ja nicht auf Kosten der Arbeit gehen. So verständlich dies ist, so absurd erscheint es, wenn man sich überlegt, wie spärlich die Freizeit bei einer 80- oder 66-Stunden-Woche ausfallen musste.

Vorurteile gegenüber ArbeiterInnen, sich in der Freizeit gehen zu lassen, dem Alkohol, dem Glücksspiel und sinnlosen Konsumgewohnheiten zuzusprechen: Sie sind tief in unserer Gesellschaft verankert, auch wenn sie heute in anderer Form daherkommen: die Familienbeihilfe, die angeblich nur in den Kauf eines neuen Handys fließt, statt den Kindern zugutezukommen; die Sozialleistungen, die ebenso falsch verwendet würden, ob von inländischen Arbeitslosen oder Flüchtlingen, weshalb man sie durch Sachleistungen ersetzen müsse; die ArbeitnehmerInnen, die sich nicht verantwortungsvoll verhalten würden, weshalb man ihnen Mitbestimmung nur unter großen Vorbehalten zugestehen dürfe. Dazu gesellt sich das Feindbild des „Funktionärs“ (in dem Fall männlich), dem nicht an den Interessen der Beschäftigten gelegen ist, die er zu vertreten hat, sondern nur an der eigenen Gage.

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Über den/die Autor:in

Sonja Fercher

Sonja Fercher ist freie Journalistin und Moderatorin. Für ihre Coverstory im A&W Printmagazin zum Thema Start-ups erhielt sie im Juni 2018 den Journalistenpreis von Techno-Z. Sie hat in zahlreichen Medien publiziert, unter anderem in Die Zeit, Die Presse und Der Standard. Von 2002 bis 2008 war sie Politik-Redakteurin bei derStandard.at. Für ihren Blog über die französische Präsidentschaftswahl wurde sie im Jahr 2008 mit dem CNN Journalist Award - Europe ausgezeichnet.

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