Paradoxien
Dazu kommt eine gewisse Paradoxie: „In den 1980er-Jahren wurden die Weichen für eine neoliberale Integration gestellt, mit dem Binnenmarktprogramm und später mit der Wirtschafts- und Währungsunion, wo es sehr stark um eine Marktliberalisierung gegangen ist und Handlungsspielräume der Staaten eingeschränkt wurden.“ In diese Zeit fällt aber auch die Amtszeit von Jacques Delors als EU-Kommissionspräsident. Der französische Sozialist engagierte sich dafür, nicht nur die vielzitierte Harmonisierung des Marktes voranzutreiben, sondern auch soziale Harmonisierungsschritte zu setzen.
Missbrauch von Sozialpolitik
„Im Sozialbereich sind laufend Kompetenzen erweitert worden. Sie sind aber vergleichsweise wenig genutzt worden“, so Soukup. Aber nicht nur das. Zusätzlich sind oftmals die Ziele von Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik in den letzten Jahrzehnten uminterpretiert worden: „Arbeitsmarktpolitik wurde in die Richtung umgedeutet, dass sie dazu dienen soll, die Arbeitsmärkte wettbewerbsfähig zu machen.“ Dazu gehören einerseits Deregulierungen der Arbeitsmärkte, andererseits hinterließ die sogenannte Budgetkonsolidierung ihre Spuren, sprich Sozialleistungen wurden gekürzt – was mit Vorgaben aus Brüssel legitimiert wurde. Dass die Mitgliedstaaten dabei ein Wörtchen mitzureden hatten, ließ man fürs innenpolitische Publikum nur allzu gerne unter den Tisch fallen.
Verändert hat sich nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form. „Auf der inhaltlichen Ebene wurden Elemente der Marktkorrektur reduziert und Elemente der Markteffizienz gestärkt“, so der AK-Experte. „Auf Ebene der Form sind EU-Richtlinien im Sinne von Mindeststandards immer weniger geworden. Stattdessen setzt man auf rechtlich unverbindliche Methoden.“ Letzteres bringt auch EU-Parlamentarierin Evelyn Regner in Rage, und sie zieht Parallelen zu Österreich. Denn hierzulande hat die Regierung erst kürzlich die Regeln im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping aufgeweicht, für die sich unter anderem Regner im EU-Parlament eingesetzt hatte. „Es ist wirklich ein Hohn, eine echte Ohrfeige und ein schlechter Witz, wenn man sich bemüht, solche Regeln zu bekommen, und dann hat man eine Regierung, die die Regeln so anwendet, dass es reicht, für einen illegal Beschäftigten Strafe zu zahlen, auch wenn man mehrere erwischt – und die meint, es sei besser zu verwarnen, als zu bestrafen.“ Sie sieht darin geradezu eine Einladung für jene, die „Gesetze nicht achten wollen und Leute ausbeuten. Das ist wirklich eine Ohrfeige für GewerkschafterInnen und für all jene, die sich ans Recht halten wollen“, macht Regner ihrem Ärger Luft.
„Letztendlich wird Europa nur mit fairem Wettbewerb und sozialer Marktwirtschaft funktionieren. Selbstverständlich muss es dann auch entsprechende Kontrollmaßnahmen geben. Derzeit beschäftigen uns etwa die Briefkastenfirmen besonders, nicht nur was die Steuern betrifft, sondern auch was Lohn- und Sozialdumping anbelangt. Das gilt es zu bekämpfen, und zwar überall.“
Evelyn Regner
So manche wichtigen Regelungen werden also von den Mitgliedstaaten verwässert. Bei einigen Themen wiederum hat nur die EU genug Gewicht, um überhaupt etwas bewirken zu können, wie Regner betont. „Die ganz Großen, also Google, Amazon und Co, zahlen ja quasi keine Steuern. Wie kann man die erwischen, und zwar wirklich erwischen? Das kann man in Europa nur über die Kommission, die über die Wettbewerbsprüfung ja wirklich auch Instrumente in der Hand hat, um ganz empfindliche Strafen – nämlich in Milliardenhöhe – zu verhängen. Und das tut sie auch“, hält die EU-Parlamentarierin fest. „Allein dieser Bereich ist eine solche Legitimation für eine Stärkung der EU-Institutionen, dass ich mir denke, dass es sich allein dafür auszahlt, wählen zu gehen und das einzufordern – abgesehen von allen anderen Gründen, die dafürsprechen.“
Zurück zum sozialen Europa, dem Kommissionspräsident Juncker wieder Leben einzuhauchen versprach. AK-Experte Soukup hält diese Initiativen für viel zu wenig weitreichend, vor allem vermutet er eine andere Motivation hinter den Bemühungen, als jene, die soziale Schieflage effektiv anzugehen: „Die Kommission verspürt einen gewissen Druck, dass die EU doch auch ein soziales Gesicht haben soll.“ Denn dass die EU in einer Vertrauenskrise ist, hat sich freilich auch in Brüssel herumgesprochen. Entsprechende Initiativen in diese Richtung seien aber mit Vorsicht zu genießen, so der AK-Experte. „Die Europäische Säule sozialer Rechte ist eine Liste rechtlich unverbindlicher Prinzipien. Diese klingen zwar schön, nur entfalten sie an sich noch keine rechtliche Wirkung“, mahnt Soukup.