Mindestlohn in Deutschland
Auch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist es durchaus sinnvoll, die unteren Einkommen zu erhöhen. Nach langjährigen Diskussionen wurde Anfang 2015 in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Skeptiker besonders auf Seite der Arbeitgeber warnten und sprachen vom Verlust der Arbeitsplätze und der Abwanderung ins Ausland. Bis jetzt hat sich dieses Szenario nicht bewahrheitet. Durch den Lohnzuwachs bei den untersten Einkommen ist die Binnennachfrage gestiegen und hat zu einem leichten Beschäftigungszuwachs geführt. Überdurchschnittlich hohe Lohnzuwächse (insbesondere für Frauen, für Beschäftigte in Ostdeutschland und die Branchen Gastronomie und Einzelhandel) summierten sich zu einem deutlichen Kaufkraftgewinn und sorgten für ein Plus an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Zusätzlich ist wie beabsichtigt die Zahl der sogenannten (und schlecht bezahlten) Minijobs gesunken.
Mit 1. Jänner 2017 ist die Lohnuntergrenze um vier Prozent angehoben worden. Der nun geltende Stundenlohn von 8,84 Euro ist aber im Vergleich zu den Nachbarländern immer noch ein niedriger Wert. In Frankreich sind es etwa 9,76 Euro, in den Niederlanden 9,52 Euro, in Belgien 9,28 Euro. Luxemburg ist Spitzenreiter in der EU mit 11,27 Euro. In Großbritannien muss umgerechnet mit 8,79 Euro etwas weniger als in Deutschland gezahlt werden – allerdings nur wegen der Abwertung der Landeswährung, die mit dem Brexit-Votum einherging. Bei einem stabilen Umrechnungskurs wäre der Stunden-Mindestlohn 9,92 Euro (siehe „Am (europäischen) Prüfstand“).
Prekäre Untergrenzen
In 22 EU-Mitgliedsländern wird ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn vorgeschrieben. Die südeuropäischen EU-Staaten haben Lohnuntergrenzen zwischen 3,35 Euro in Griechenland und 4,29 Euro in Spanien. Auch wenn das Leben dort billiger ist, reicht die Lohnuntergrenze kaum zum Überleben. Noch prekärer schaut es in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern aus. Dort sind die Mindestlöhne deutlich niedriger, auch wenn sie aufholten. In Polen müssen jetzt etwa 2,65 Euro pro Stunde gezahlt werden. Auch in 80 Ländern außerhalb der EU gibt es Mindestlöhne. In Moldawien beträgt die Untergrenze für Löhne laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) umgerechnet 56 Cent, in Brasilien sind es 1,10 Euro und in der Türkei 2,73 Euro. Die USA zahlen mindestens 6,85 Euro pro Stunde, Australien 11,89 Euro.
Ein gesetzlicher Mindestlohn ist dann vernünftig, wenn es eine geringe Abdeckung durch Tarifverträge gibt. So sind in Deutschland nur etwa 60 Prozent der Branchen tariflich gebunden. In Österreich, bei einer Kollektivvertragsabdeckung von 98 Prozent, wird in der Regel Lohn oder Gehalt direkt von Arbeitnehmer- und ArbeitgebervertreterInnen verhandelt. Ein Mindestlohn-Gesetz würde daher die Handlungsspielräume und auch den Einfluss der ArbeitnehmerInnen einschränken. So regeln etwa die Kollektivvertragsverhandlungen nicht nur die untersten Lohngruppen, sondern das gesamte Lohngefüge der Branche.
Den Wirtschaftskreislauf ankurbeln
Mit dem Mindestlohn hat sich auch Simon Sturn auseinandergesetzt. Er forscht am Institute for Ecological Economics, Department of Socioeconomics an der WU Wien: „Mindestlöhne haben in vielen Ländern, etwa den USA, Großbritannien und Deutschland, nicht zu den befürchteten starken Beschäftigungsverlusten geführt, sondern gingen allenfalls mit geringen Beschäftigungseffekten einher.“ Sturn erwähnt auch, dass aufgewendete Gelder wieder in die Wirtschaft investiert werden.„Gemäß einer Studie von Aronson und Koautoren zu den USA führen Mindestlohnerhöhungen zu einem starken Anstieg der Konsumausgaben; dies kann dazu beitragen, die Ökonomie zu stimulieren“, zitiert Wirtschaftsexperte Sturn. Lohnerhöhungen für NiedrigverdienerInnen landen eher selten auf dem Sparbuch, zumeist fließen sie direkt in den Wirtschaftskreislauf.
Weshalb sich die Beschäftigungseffekte von gering negativ bis gering positiv entwickeln, darüber wird gerade eine wissenschaftliche Debatte geführt. Ein Grund für dieses Ergebnis könnte die durch den höheren Mindestlohn verlängerte durchschnittliche Verweildauer im Betrieb sein. Schlussfolgerung: Die Arbeitsplatz-Zufriedenheit der Beschäftigten wird größer, die Unternehmer sparen Kosten, die sie für die Anwerbung und Ausbildung von neuen ArbeitnehmerInnen aufwenden müssten.
Trotz der hohen Abdeckung durch den Kollektivvertrag gibt es in Österreich berufstätige Menschen, die nicht seinen (vollen) Schutz genießen, etwa freie DienstnehmerInnen. Zwar profitierten sie in den letzten Jahren von sozialrechtlichen Verbesserungen, doch gilt der arbeitsrechtliche Schutz des Kollektivvertrages für sie nicht automatisch.
Ebenso sind Scheinselbstständige, die faktisch von einem Auftraggeber abhängig sind und damit auch ähnliche Tätigkeiten wie ArbeitnehmerInnen ausüben, von einem Kollektivver-trag ausgenommen.
Daher lautet eine Forderung der ArbeitnehmerInnenseite, den kollektivvertraglichen Schutz für diese Gruppe auszuweiten. AK-Expertin Bettina Csoka: „Durch die Zunahme der Digitalisierung und des Crowdworking wird die Scheinselbstständigkeit auch in Zukunft ein Thema sein. Deshalb ist es wichtig, diese Entwicklungen intensiv weiter zu verfolgen.“