Universelle Leistungen
Wird im Zusammenhang mit Sozialleistungen von Bedürftigkeit gesprochen, so ist diese in Österreich nicht immer auf die finanzielle Lage bezogen. Wer pflegebedürftig ist, bekommt Pflegegeld, dessen Höhe nicht vom Einkommen oder Vermögen abhängt, sondern von der gesundheitlichen Verfassung, die durch die Pflegestufe definiert wird.
Ebenso wenig spielen Armut oder Reichtum eine Rolle, wenn es um Sozialleistungen für Kinder geht: Die Familienbeihilfe mit dem Kinderabsetzbetrag sowie das Kinderbetreuungsgeld gehören wie auch das Pflegegeld zu den sogenannten „universellen“ Leistungen, die jede/r beziehen kann. Beim Karenzgeld wiederum gibt es Wahlmöglichkeiten, darunter auch ein einkommensabhängiges Modell für Besserverdienende.
Romana Brait: „Es geht um ein inklusives Sozialmodell, das heißt, dass alle dabei sein sollen.“ Bei manchen Sozialleistungen steht daher die Lebenslage der Personen im Zentrum. Brait: „Auch reiche Leute sind mal verwundbar, wenn sie Kinder sind oder wenn sie alt oder pflegebedürftig sind, und auch sie soll der Staat entsprechend schützen.“ Wichtig sei aber, dass sie auch auf der Finanzierungsseite gemäß ihrer Leistungsmöglichkeit mehr beitragen als ärmere Menschen.
Manche sozialstaatlichen Leistungen hängen dagegen vom Einkommen ab. Zu diesen „bedarfsorientierten Leistungen“ gehören die Pensionsversicherung mit der Ausgleichszulage, die Arbeitslosenversicherung und die Notstandshilfe für Langzeitarbeitslose, aber auch Wohn- und Studienbeihilfen – und natürlich die bedarfsorientierte Mindestsicherung. So können zum Beispiel nur Personen Mindestsicherung beziehen, deren Vermögen, ausgenommen eine selbst bewohnte Eigentumswohnung, weniger als 4.188,80 Euro beträgt.
Hebel gegen Altersarmut
Einige wesentliche Sozialleistungen, wie das Arbeitslosengeld oder Pensionen, sind Versicherungsleistungen. Bei der Betrachtung der Sozialleistungen muss ein besonderer Blick auf Frauen geworfen werden: Sie verdienen nach wie vor wesentlich weniger als Männer, zahlen also weniger ins System ein und bekommen weniger heraus.
Für Ingrid Moritz, Leiterin der Abteilung Frauen in der AK Wien, ist die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern der Hebel, an dem angesetzt werden sollte. Fast jede zweite Frau arbeitet Teilzeit. Moritz: „Mein Zugang ist: Lenken wir den Fokus stärker darauf, wie die Erwerbstätigkeit der Frauen gestärkt werden kann, anstatt im Sozialsystem zu reparieren, was in der Erwerbstätigkeit falsch gelaufen ist.“
Die Einkommensschere geht vor allem ab dem Zeitpunkt auseinander, wenn Kinder kommen, denn viele Frauen gehen in Karenz und arbeiten danach Teilzeit. Zwar schaffen Maßnahmen wie etwa das Gratis-Kindergartenjahr positive Anreize, doch vor allem in den Bundesländern mangelt es noch stark an Ganztagsbetreuung sowohl von Klein- als auch von Schulkindern. Moritz: „Es gibt nicht genug Angebote.“ Kostenfreie Kindergärten und -krippen würden die Erwerbstätigkeit von Frauen unterstützen.
Die Expertin kritisiert auch, dass die Notstandshilfe, die bei länger andauernder Arbeitslosigkeit einsetzt, an das Partnereinkommen gebunden ist: Verdient er „zu viel“, fällt die Frau um diese Sicherung um, obwohl sie vorher gearbeitet und ins System eingezahlt hat. „Das ist eine mittelbare Diskriminierung, denn das trifft nicht nur verheiratete Frauen, sondern auch Frauen in Lebensgemeinschaften, die keinen Unterhaltsanspruch haben.“ Plötzlich würden Frauen, die ins Arbeitslosensystem eingezahlt haben, in eine Abhängigkeit vom Partner geraten. Für viele Beziehungen seien solche Situationen „Zerreißproben“. Im Jahr 2015 wurden mangels Notlage – hauptsächlich aufgrund des Partnereinkommens – 81,3 Prozent der Notstandshilfe-Ansuchen von Frauen abgelehnt.
Eine andere Belastung ist es, wenn Eltern oder Angehörige gepflegt werden müssen. Typischerweise stecken viele Frauen im Beruf zurück, um die Pflege zu übernehmen. Ingrid Moritz: „Da der Besitz angegriffen wird, wenn man in ein Altersheim kommt, springen oft die weiblichen Verwandten ein.“ Dadurch zahlen sie weniger in die Pensionskasse ein, als wenn sie Erwerbsarbeit leisten würden, und landen später nicht selten in der Altersarmut.
Die AK-Expertin verweist auch auf zwei Änderungen im Pensionssystem, die das Problem vergrößern: Zum einen wird das Pensionsalter von Frauen auf 65 Jahre angehoben, zum anderen werden für die Berechnung der Pensionen nicht mehr nur die Versicherungsjahre mit den höchsten Einkommen herangezogen, sondern der Durchschnitt aus allen Jahren.
Im Sozialsystem gilt teilweise das Motto: Wissen ist Geld. Wer etwa nicht weiß, wie das Pensionssystem genau funktioniert, kann nicht bewusst auf eine gute Pension hinarbeiten. So zeigte 2012 das Frauenbarometer, eine Befragung des Frauenministeriums, dass sich zwei Drittel der befragten Männer und Frauen „eher schlecht“ oder „gar nicht“ über die Folgen von Teilzeitarbeit auf den Pensionsanspruch informiert fühlten. Wissenslücken, die sich schmerzhaft auswirken können.
Extrapakete für manche
Menschen mit höheren Einkommen profitieren im Sozialsystem aus Sicht von Adi Buxbaum und Romana Brait durch die Möglichkeit, Ausgaben für Bildungsmaßnahmen, eine Zusatzkrankenversicherung und private Pensionsvorsorge steuerlich abzusetzen. Wer zu wenig verdient, um Lohnsteuern zu zahlen, kann auch nichts absetzen.
Buxbaum: „Manche Extrapakete wie eine private Krankenversicherung oder Bildungsausgaben sind für gewisse Schichten per se nicht leistbar.“ Auch die Kosten für kundige SteuerberaterInnen oder AnwältInnen, die – das nur nebenbei – ebenfalls steuerlich absetzbar sind, werden sich wohlhabende Menschen eher leisten als GeringverdienerInnen. Sie können sich auf diesem Weg wieder einen Wissensvorteil verschaffen. Zudem werden Bessergestellte im Schnitt älter als ärmere Menschen und beziehen so etwa auch länger Pensionsgeld.
Wer meint, der Sozialstaat sei „gerecht“, wenn der oder die Einzelne mehr herausbekommt, als er oder sie einzahlt, missversteht das Grundprinzip. Dennoch gibt es diese Debatte, nicht zuletzt im Zusammenhang mit MigrantInnen und AsylwerberInnen, die Sozialleistungen beziehen, ohne zuvor ins System eingezahlt zu haben.
Die Anfang Februar präsentierte, groß angelegte Studie „Ökonomische Effekte von Asylberechtigten in Österreich“ räumt mit Vorurteilen auf. Sie wurde von Joanneum Research im Auftrag von Caritas und Rotem Kreuz durchgeführt und ergab, dass anerkannte Flüchtlinge mehr ins System einzahlen, als sie an Transferleistungen herausbekommen. Das Nettosteueraufkommen sei positiv und belaufe sich pro asylberechtigter Person und pro Jahr im Schnitt auf zumindest 3.050 Euro. Die zusätzliche Bruttowertschöpfung für Österreichs Volkswirtschaft summiere sich im Schnitt auf mindestens 7.350 Euro pro Person und Jahr.