Dabei hatten wir gelernt, dass, selbst wenn die Lebensumstände schwierig sind (fordernder Job, wenig Geld, zwei Kinder im Distance Learning …), die allermeisten anfangs recht adaptionsfähig an Ausnahmesituationen sind. Der Alltag wurde umgestellt, die Gewohnheiten wurden durch die „neue Normalität“ ersetzt, und auch wenn vielen bald die Zunge bis zum Knie hing, sagten doch alle irgendwie: „Geht schon, muss ja …“
Was wir aber allesamt jetzt lernen, ist: Das geht eine Zeit lang gut, aber deswegen nicht unbedingt auf Dauer. Irgendwann hörte man in Gesprächen recht häufig: „Ich funktioniere.“ Aber das ist auch ein Druck, dem sich die Leute aussetzen, „funktionstüchtig“ zu bleiben. Nicht nur die Lage selbst, auch dieser Druck, „funktionieren“ zu müssen, belastet. Nicht zuletzt, wenn diese Belastung nie durch einen ausgelassenen Abend, Geselligkeit oder sonstige erfreuliche Auszeiten unterbrochen wird. Und irgendwann ist die Belastungsgrenze erreicht.
In der Schwebe
„Langsam geht uns allen die Puste aus“, sagt eine Gesprächspartnerin in dem soziologischen Forschungsband „Gesellschaft als Risiko“, den die deutschen Forscherinnen Sarah Lenz und Martina Hasenfratz im Campus-Verlag herausbrachten. „Mir fällt die Decke auf den Kopf“ oder „ich will nur, dass das alles aufhört“ – das sind so typische Begriffe, mit denen ihre Interviewpartner:innen operieren. „In der Schwebe“, „Seiltanzen“, „in Sorge“, „am Limit“, die immer wiederkehrenden Vokabeln. Dabei ist nicht nur die Dauerbelastung im Alltag das, was verstört und runterzieht, sondern, so die Herausgeberinnen, die „Erschütterung fundamentaler Sicherheiten und Gewissheiten“. Also: Das eine sind die fordernden Belastungen des Alltags, die Sorgen ums Geld – dazu kommt aber noch die Atmosphäre drum herum.
„Es ist alles zu viel“ – Sätze wie diesen liest man jetzt immer häufiger, auf Social Media oder sonst wo. Die Psychologie und die Gesellschaftswissenschaften wissen seit jeher, dass nicht allein die Frage, was uns widerfährt, entscheidend ist für unsere Adaptionsfähigkeit, sondern wie wir Geschehnisse mit Bedeutung versehen, wie wir mit ihnen umgehen können. Der deutsche Soziologe Armin Nassehi, einer der Stars seiner Zunft, hat unlängst eine große Studie über die „überforderte Gesellschaft“ vorgelegt. Die Pandemie hat ihm dafür allenfalls ein paar Stichworte geliefert, aber seine Untersuchung ist grundlegender, grundsätzlicher. Nassehis zentrale Überlegung: Wir leben in extrem komplexen Gesellschaften, die viel zu kompliziert sind, als dass sie sich schnell und wirksam auf Risikogeschehnisse einstellen können. Als Gesellschaft können wir viel weniger „handeln“, als wir glauben. Zugleich ist die Vorstellung, wir könnten „handeln“, also gemeinsam oder auch nur individuell aktiv unsere Geschicke in die Hand nehmen, für uns Menschen ganz wesentlich. Wenn wir handeln, haben wir wenigstens das Gefühl, dass wir etwas tun.
Ohnmacht und Handlungsmacht
Umgelegt auf die Pandemie heißt das: Wenn wir zu Beginn unsere Gewohnheiten umstellten, aktiv unser Verhalten anpassten, dann gab uns das auch das Gefühl, Handlungsmacht zu haben. Später erzählten wir uns vielleicht wechselseitig, wir müssten noch ein paar Monate durchhalten und danach haben wir es dank der Impfstoffe überstanden.
Doch mittlerweile ist zweierlei geschehen. Erstens: Einige dieser Hoffnungen haben sich schon als falsch herausgestellt. Zweitens: Das Vertrauen, wir könnten als Gesellschaft gemeinsam handelnd auf die Situation einwirken, ist massiv zerstört. Die Gesellschaft ist zerrissen, „die Politik“ wiederum hat zu viel versemmelt oder einfach vorgeführt, dass sie auch auf Sicht fährt, nur reagieren kann und oft einfach sogar an Dingen scheitert, an denen sie nicht mehr scheitern dürfte. Psychologisch ist das fatal. Denn Menschen haben das Bedürfnis nach Sicherheit. Wir wissen zwar, dass Katastrophen passieren können, aber letztlich vertrauen wir darauf, dass dann jemand kommt – Polizei, Rettung, Katastrophenschutz und ganz danach die Versicherung zur Schadensregulierung. Gerade weil die modernen Gesellschaften komplex sind, erwarten wir, dass es letztlich für alles eine Lösung und einen Zuständigen gibt – aber zugleich sind komplexe Gesellschaften sehr schlecht darin, da sie im Normalzustand auf Autopilot segeln und alles durcheinandergerät, wenn der Normalzustand kippt.
Wir sind zwar weder als Individuen noch als Gesellschaft handlungsunfähig, so der Soziologieprofessor Nassehi, wir machen aber auch die Erfahrung, wie „voraussetzungsreich“ Handeln ist. Die Handlungen müssen möglich sein, sie müssen dafür taugen, das angestrebte Ziel zu erreichen und es müssen alle mittun, sollte das Ziel nur durch kollektives Handeln erreicht werden können. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, empfinden wir uns als ohnmächtig. Erweckt die Regierung noch dazu den Eindruck, sie kapituliere, dann erleben wir uns dem Unbill ziemlich hilflos ausgeliefert.
Und das ist kollektiv-psychologisch so ziemlich das Blödeste, das passieren kann. Das Ende der Quarantäne ist dabei nicht hilfreich.