Auf der einen Seite bewirkt das Schließen von Schulen eine Eindämmung der Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus – eine wichtige Maßnahme sowohl für die SchülerInnen als auch das Lehrpersonal. Auf der anderen Seite entstehen dadurch jedoch auch neue Problematiken: „ExpertInnen befürchten, dass die Schere im Bildungsbereich durch die Corona-Krise weiter aufgeht“, betont Matthias Schnetzer, Referent für Verteilungsfragen sowie Sozial- und Wirtschaftsstatistik in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft der AK Wien.
Doch was genau bedeutet das? Welche Faktoren tragen zu dieser ansteigenden Bildungsungleichheit der über eine Million SchülerInnen Österreichs bei und vor welchen Herausforderungen stehen Eltern aktuell?
Eltern stehen vor großen Herausforderungen
Das Schließen der Schulen stellt momentan viele Haushalte vor besondere Herausforderungen, wie Matthias Schnetzer in seinem aktuellen Beitrag „Weshalb die Corona-Krise auch eine Verteilungsfrage ist“ am A&W-Blog zusammenfasst: „Zum einen variieren die Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern bei der Vermittlung der Lehrinhalte deutlich. Diese hängen davon ab, wie viel Zeit die Eltern aufbringen können, welche Sprachen sie sprechen, welchen Bildungsabschluss sie selbst haben. Für Alleinerziehende ist der Spagat zwischen Erwerbsarbeit und Betreuungspflichten ohne Unterstützung etwa durch Großeltern oder Betreuungseinrichtungen noch deutlich schwieriger als ohnehin schon. Zum anderen spielt auch die Ausstattung zu Hause eine Rolle. Gibt es einen Internetanschluss, einen Computer und vielleicht einen Drucker? Steht ein geeigneter Arbeitsplatz für das Kind zur Verfügung?“
Schnetzer spricht damit die drei zentralen Probleme im Bildungssektor an:
- Den Faktor Zeit: Schaffen es Eltern – vor allem, wenn sie alleinerziehend sind – ihre Arbeit und die Betreuung ihrer Kinder unter einen Hut zu bringen?
- Den Faktor Wohnen und Ausstattung: Haben die Kinder zu Hause einen geeigneten Platz zum Lernen? Sind alle dafür notwendigen Ressourcen (Computer, Tablet, Drucker, Internet etc.) vorhanden?
- Den Faktor Bildungsstand der Eltern: Können die Eltern überhaupt Lehrinhalte vermitteln und ihre Kinder beim Lernen unterstützen?
Der Faktor Zeit
Bisher waren es vor allem die langen Sommerferien, die Eltern vor Herausforderungen gestellt haben: „Während berufstätige Eltern in den meisten Fällen fünf Wochen Jahresurlaub haben, sind die Schulen in etwa 14 Wochen im Jahr geschlossen“, geben Elke Larcher und Marina Laux von der AK Wien zu bedenken. „Laut einer Befragung von 800 Eltern mit Volksschulkindern in Wien fällt es der Hälfte der Eltern schwer, die Betreuung während der Sommerferien für ihre Kinder zu organisieren.“ Die aktuelle Situation aufgrund des Corona-Virus ist damit durchaus vergleichbar: Die Kinder sind zu Hause, die Eltern müssen – je nach Branche und Beruf – entweder im Home-Office oder weiterhin an ihrem Arbeitsplatz ihre Leistungen erbringen, und dazwischen steht immer die Frage, wann und wie die Kinder betreut werden (können). Und das wirkt sich negativ auf die Chancengleichheit aus.
Die Kluft (im Bildungsbereich) wird nach Ende der Corona-Krise noch größer sein, als sie es ohnehin schon war.
Philipp Schnell, Abteilung Bildungspolitik der AK Wien
Der „Sommerlocheffekt“ ist ein bekanntes Phänomen: „Während die Lernentwicklung der SchülerInnen während der Unterrichtsmonate weitestgehend parallel verläuft, ausgehend von ihren unterschiedlichen Startniveaus, entstehen in den Sommerferien, abhängig vom sozioökonomischen Familienhintergrund, unterschiedliche Kompetenzentwicklungen. Die Leistungsschere geht auseinander“, so Larcher und Laux. Hier besteht aktuell die Befürchtung, dass dies auch auf die aktuelle Corona-Lage und den Heimunterricht zutrifft und die Chancenungleichheit weiter ansteigt. Philipp Schnell, Referent in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien sieht die akute Gefahr, dass diese „Kluft nach Ende der Corona-Krise noch größer sein wird, als sie es ohnehin schon war“.
[infogram id=“aandw-online-005-bildung-001-sommerloch-1hxr4zq7zq3q4yo?live“]Der Faktor Wohnen und Ausstattung
Wie gut Kinder lernen, hängt nicht nur von ihrer Intelligenz und ihrer Motivation ab. Um gut lernen zu können, müssen zunächst auch die Grundvoraussetzungen geschaffen werden. Allen voran: ein ruhiger Arbeitsplatz, an dem sich ein Kind gut konzentrieren kann. Ob das in einem Haushalt gegeben ist, bestimmen viele verschiedene Faktoren: die Größe und Beschaffenheit des Wohnraums, Ablenkungen durch Haustiere, kleine Geschwister, die Anzahl der Personen, die sich darin aufhalten. Hier sind Kinder, die in einer großen Wohnung oder einem Haus wohnen und beispielsweise ein Einzelzimmer mit eigenem Schreibtisch haben, klar im Vorteil. Das Lernen hängt jedoch auch vom Vorhandensein gewisser Ressourcen ab: Gibt es einen Computer, ein Tablet, einen Internetanschluss? Steht ein Drucker zur Verfügung, über den Lernmaterialien ausgedruckt werden können?
58 Prozent der Kinder, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, leben in extrem überbelegten Wohnungen.
Heidi Schrodt, langjährige Direktorin des Gymnasiums Rahlgasse
Heidi Schrodt, langjährige Direktorin des Gymnasiums Rahlgasse in Wien und Vorsitzende der Bildungsinitiative BildungGrenzenlos, schrieb am 24. März 2020 hierzu im „Standard“: „58 Prozent der Kinder, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, leben in extrem überbelegten Wohnungen. Wenn fünf Personen auf 50 Quadratmetern ohne Internet leben, dann brauchen die Kinder aus solchen Familien mehr als gute Lerntipps von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen oder elektronische Lernmaterialien.“ Sie denkt dabei vor allem an „ausreichende zusätzliche Unterstützung“ von einzelnen, besonders betroffenen Kindern („die Schulen wissen genau, um welche Kinder es sich handelt“), aber auch an finanzielle Mittel, um den Betroffenen funktionierendes Internet und Geräte für zu Hause zur Verfügung zu stellen.
Der Faktor Bildungsstand der Eltern
Viele jetzt vermehrt auftretende Problematiken im Bildungsbereich sind nicht neu. Ulrike Gollonitsch und Elke Larcher von der AK Wien wiesen bereits in ihrem A&W-Blogbeitrag darauf hin: „Das österreichische Schulsystem setzt deutlich auf Eltern als Lernressource. Es wird vorausgesetzt, dass Eltern mit ihren Kindern lernen, bei Hausübungen unterstützen und den Lernfortschritt ihrer Kinder im Auge haben. Jede/r Vierte lernt täglich mit dem eigenen Kind. Zumindest so gut man eben kann. Denn nur wenige Eltern können den Unterrichtsinhalt verständlich erklären. Weiters haben Eltern oftmals fachlich Schwierigkeiten zu unterstützen.“
Das österreichische Schulsystem setzt deutlich auf Eltern als Lernressource.
Ulrike Gollonitsch und Elke Larcher, Bildungsexpertinnen der Arbeiterkammer Wien
Diese Problematik verschärft sich nun durch den Heimunterricht weiter: Jene Kinder, deren Eltern sich mit dem Lernstoff auskennen und diesen auch vermitteln können, werden einen Vorsprung gegenüber anderen Kindern entwickeln, deren Eltern Probleme mit dem Lernstoff aufweisen. „Kinder, die das Pech haben, zu Hause keine Unterstützung für die Schule zu haben, Kinder, die nicht einmal einen Arbeitsplatz für ihre Hausaufgaben haben, Kinder, deren Eltern keinen Internetzugang haben und auch der deutschen Sprache nicht mächtig sind – all diese Kinder trifft es jetzt besonders hart“, so Schrodt.
[infogram id=“aandw-online-005-bildung-001-bildungsvererbung-1hzj4onyknvo2pw?live“]„Bereits vor der Corona-Krise war das besonders hohe Maß an Bildungsungerechtigkeit in Österreich ein ernst zu nehmendes Problem“, teilt Philipp Schnell mit und bezieht sich dabei auf die Ergebnisse der Standardüberprüfungen, welche die Kompetenzen von SchülerInnen am Ende der 4. und 8. Schulstufe ermitteln. „Am Ende der Volksschule beträgt der Unterschied zwischen Kindern von Eltern mit einem akademischen Bildungshintergrund und Kindern von Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss im Schulfach Deutsch momentan fast 30 Schulmonate. Das entspricht ungefähr drei Schuljahren, die das Kind aufholen müsste, um mit Kindern aus AkademikerInnen-Familien gleichzuziehen. Bis zur achten Schulstufe verringert sich dieser Abstand kaum.“
Wichtige Maßnahmen für mehr Chancengleichheit
Aufgrund dieser drei Problematiken wird die Situation nach Ende der Corona-Krise so aussehen, dass sozial benachteiligte SchülerInnen mit weniger Lernstunden und weniger Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff wieder in die Schule zurückkommen. Das trifft manche Schulen stärker als andere, wenn es dort viele SchülerInnen aus benachteiligten Elternhäusern gibt. Diese Schulen müssen die unterschiedlichen Herausforderungen, die die Kinder mitbringen, dann ausgleichen. „Speziell diese Schulen brauchen dringend Unterstützung“, betont Schnell.
Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, das AK-Chancen-Index-Modell umzusetzen und damit bestimmte Schulstandorte gezielt zu unterstützen und so jedem Kind seine Chance zu geben.
Philipp Schnell, Abteilung Bildungspolitik der AK Wien
Bereits 2016 wurde das AK-Chancen-Index-Modell vorgelegt, das zum Ziel hat, „stark belastete Schulen bei ihren Herausforderungen zu unterstützen. Denn damit an jeder Schule jedes Kind zum Bildungsziel begleitet werden kann, braucht es eine Ressourcenzuteilung, die an die Anforderungen des Standorts angepasst ist.“ Dieses Modell ist jetzt wichtiger denn je, um genau dort mehr finanzielle Mittel für Teamteachings sowie zusätzliche Lehrkräfte oder SchulsozialarbeiterInnen einsetzen zu können, wo sie besonders gebraucht werden. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, das Modell umzusetzen und damit bestimmte Schulstandorte gezielt zu unterstützen und so jedem Kind seine Chance zu geben“, so Schnell.
Was Eltern jetzt tun können
Um Ihnen den Heimunterricht zu erleichtern, hat der A&W-Blog einen Beitrag mit 10 Tipps für Eltern für konfliktfreien Heimunterricht verfasst. Darin befinden sich neben 10 wertvollen Tipps auch zusätzliche Links zu digitalen Lernmaterialien, kostenlosen Übungsblättern, Tipps zum Üben von Fremdsprachen und noch vieles mehr. Zudem gibt es diesen Beitrag auch auf Türkisch: Evde çocuklarınız ile ders çalışırken oluşacak gerginlikere karşı ebeveynlere yönelik – 10 tavsiyemiz.