Sozialstaat und Abgabenquote
Beginnend mit den 1960er-Jahren und noch bis Mitte der 1990er-Jahre prägten Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates die Budgetpolitik. Die Sozialquote, also der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Soziales und Gesundheit, stieg von 20 auf 30 Prozent des BIP. Inkludiert man die Ausgaben für Bildung, dann gehen heute sieben von zehn Euro der Staatsausgaben in diese drei Bereiche. Nahezu völlig parallel zum Anstieg der Sozialquote stieg auch die Abgabenquote, der Anteil von Steuern und Beiträgen am BIP, von 32 auf 42 Prozent. Denn der Politik und der Gesellschaft war klar, dass ein Ausbau des sozialen Sicherungssystems aus Steuern und Beiträgen finanziert werden muss und nicht aus Kreditaufnahmen.
Die politischen Alternativen sind also recht eindeutig definiert: gutes Sozialsystem kombiniert mit hoher Abgabenquote oder niedrige Steuern verbunden mit schlechtem Sozialsystem. Österreich hat seinen Weg gewählt, nicht zum Schaden der Menschen und der Wirtschaft im Land.
Das Erbe der Bankenrettung
Dennoch ist über die Jahrzehnte die Schuldenquote, also der Anteil der Bruttoschulden des Gesamtstaates am BIP, gestiegen, von 43 Prozent am Ende der Ära Kreisky auf 65 Prozent im Jahr 2007 und 85 Prozent im Jahr 2015. Der sprunghafte Anstieg in der Finanzkrise nach 2007 ist das Ergebnis der umfangreichen Hilfen für das Bankensystem (30 Milliarden Euro) und des tiefen Wirtschaftseinbruchs, der die Staatseinnahmen nach unten drückte und die Ausgaben für die Arbeitslosigkeit nach oben schnellen ließ. Doch selbst im Jahr 2016 haben die öffentlichen Vermögenswerte die Schulden merklich überstiegen. Staatliche Infrastruktur (Schienennetz, Straßen, Wohnbau, Bildungseinrichtungen und Ähnliches), staatliche Unternehmensbeteiligungen, Finanzvermögen und Grundstücke wurden mit Kreditaufnahme finanziert.
Kuriose Unterlassung
Aus ökonomischer Sicht ist das vernünftig, weil dieser öffentliche Kapitalstock den künftigen Generationen zugutekommt. Doch kurioserweise wird das öffentliche Vermögen in internationalen Vergleichen oder budgetpolitischen Analysen gar nicht berücksichtigt, ganz im Gegenteil zum Unternehmenssektor, wo es einem niemals einfallen würde, die Solvenz eines Unternehmens nur anhand seiner Schulden und nicht auch anhand seines Anlagevermögens zu beurteilen.
Eine markante Trendwende in den Zielsetzungen der Budgetpolitik ging von den EU-Vorgaben aus: Stabilitätspakt und Fiskalpakt stellten die Erreichung von Budgetzielen – mittelfristiges strukturelles Nulldefizit und Schuldenquote von 60 Prozent des BIP – in den Mittelpunkt. Österreich hat diese Weichenstellung akzeptiert und die budgetpolitische Strategie neu ausgerichtet. Das strukturelle Defizit wurde durch einen ausgewogenen Maßnahmenkatalog aus Steuererhöhungen und Ausgabeneinsparungen von drei Prozent in der Finanzkrise 2009 auf 0,3 Prozent im Jahr 2015 zurückgeführt.
Die Staatsschuldenquote reagiert langsamer, sie erreicht dieses Jahr 74 Prozent des BIP, wird 2021 das Vorkrisenniveau von 65 Prozent und 2023 auch die Marke von 60 Prozent des BIP unterschreiten. Im Wesentlichen war das Budget aber im Jahr 2015 saniert.
Österreich erfüllt also die Fiskalkriterien der EU. Und jetzt bei saniertem Budget und guter Wirtschaftslage stellt sich die Frage nach den budgetpolitischen Prioritäten noch einmal sehr explizit.
Verschiedene Strategien
Strategie I stellt zwei Ziele in den Mittelpunkt: erstens ein Nulldefizit, selbst wenn, wie derzeit in den Prognosen festgehalten wird, die Arbeitslosigkeit ab 2020 wieder zu steigen droht. Zweitens die Senkung der Abgabenquote auf unter 40 Prozent des BIP, mit Schwerpunkten der Steuersenkung für Besserverdiener (Ausschaltung der kalten Progression, Familienbonus nicht für das untere Einkommensdrittel der Familien), die Großunternehmen (Senkung des Körperschaftssteuersatzes, Begünstigung von nicht entnommenen Gewinnen) und einzelne Lobbys (Mehrwertsteuersenkung Tourismus, Abschreibungsregeln für Immobilienwirtschaft).
Strategie II stellt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Investitionen in sozialen Zusammenhalt und ökologischen Umbau in den Mittelpunkt: etwa in die aktive Arbeitsmarktpolitik durch Stärkung der Vermittlung und Qualifizierung der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten für gute Jobs; in die Integration der Geflüchteten in das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft; in den weiteren Ausbau von Kindergärten und Krippen und die bessere Bezahlung der dort beschäftigten LeistungsträgerInnen; in Ganztagsschulen und Schwerpunktmaßnahmen nach dem Chancenindex; in den Ausbau des Pflegesystems, damit der soziale Unterschied zwischen Arm und Reich nicht im Alter nochmals schlagend wird.
Sie beinhaltet auch Investitionen in den öffentlichen Verkehr, damit der Anteil des motorisierten Individualverkehrs verringert werden kann; in den sozialen Wohnbau, der leistbaren Wohnraum bietet und die Zersiedelung der knappen Bodenflächen vermeiden hilft; in die Erneuerung der Energieerzeugung und der Energienetze; in die Entlastung der Arbeitseinkommen durch Abgaben, damit sich Leistung lohnt.
Kein Konflikt mit Schuldenabbau
Strategie II muss übrigens nicht in Konflikt mit der Verringerung der finanzkrisenbedingten Staatsschulden kommen: Momentan entgehen dem Staat Milliardenbeträge durch Steuerhinterziehung und -umgehung sowie den geringen Anteil von vermögensbezogenen Steuern.
Würde man diese Mittel lukrieren, würde dies budgetäre Spielräume eröffnen, durch die ein nachhaltiger Finanzierungssaldo mit einer ökologisch-sozialen Investitionsstrategie und einer Entlastung der Arbeitseinkommen kombiniert werden kann. Allerdings würde bei steigender Arbeitslosigkeit die Bekämpfung dieser sozialen Geißel Priorität vor einem Nulldefizit haben.
Die Differenzen in diesen unterschiedlichen politischen Strategien sind nicht nur Grundsatzfragen, sondern sie wirken sich in der konkreten Budgetpolitik jeden Tag aufs Neue aus. Im Budget 2018/19 kam der Unterschied zwischen Strategie I und II auf den Punkt: Wären die Aktion 20.000 für ältere Langzeitarbeitslose (Nettokosten 220 Millionen Euro pro Jahr) oder das Integrationsjahr für Asylberechtigte (100 Millionen Euro) oder das zweite kostenlose Kindergartenjahr (90 Millionen Euro) nicht wichtiger als eine Mehrwertsteuersenkung im Tourismus (120 Millionen Euro pro Jahr)?
Markus Marterbauer
Abteilung Wirtschaftswissenschaft der AK Wien
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/18.
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